Süß, happy und fit

Von wegen zuckerkrank – ein Blog über glückliches Leben, leckere Ernährung und Sport mit Typ-1-Diabetes

Schluss mit den Werbelügen: Leben mit Diabetes heißt leider auch Leben mit Einschränkungen!

12 Kommentare

„Mit Typ-1-Diabetes kann man heute ein ganz normales Leben führen!“ Es gibt Tage (und diese Woche hatte ich einige davon), an denen ich Sprüche wie diesen um’s Verrecken nicht hören möchte. Weil sie schlicht und ergreifend mit dem realen Alltag nichts zu tun haben.

Wer heutzutage die Diagnose Typ-1-Diabetes erhält, der bekommt von Beginn an Botschaften wie „Sie können weiter alles essen, was Sie essen möchten“ oder „Sie müssen sich mit nichts wirklich einschränken“ mit auf den Weg. Auf der Internetseite des Profil-Instituts liest sich das so: „ (…) mit guter Blutzuckerkontrolle können Diabetiker jedoch – abgesehen von der Therapie – ein vollkommen beschwerdefreies und normales Leben führen.“ Das ist sicherlich beruhigend und ermutigend gemeint, denn eine Aussage wie „Sie haben sich hier eine lebensbedrohliche Stoffwechselerkrankung angelacht, die Sie permanent auf Trab halten und Ihnen regelmäßig den Tag versauen wird“ würde wohl kaum dabei helfen, die Diagnose zu akzeptieren und mutig nach vorn zu schauen. Und verglichen mit den eher trüben Aussichten, die ein Typ-1-Diabetiker zum Beispiel vor 100 Jahren zum Zeitpunkt seiner Diagnose hatte, ist ja auch wirklich etwas dran. Aber dieser kleine Einschub – „abgesehen von der Therapie“ – erscheint mir dann doch ein kleines bisschen zu beiläufig.

Versonnen-verliebter Blick auf das Display des Blutzuckermessgeräts…

Auch die Diabetesindustrie schlägt solche Töne an. Mit den neuen Analoginsulinen kann man angeblich eine gute Glukoseeinstellung erreichen, selbst wenn man das Mahlzeiteninsulin erst nach dem Essen spritzt, alles easypeasy also. Und die neuen Blutzuckermessgeräte, Insulinpumpen und CGM-Systeme sind ohnehin so cool und sexy, dass man sich bald gar nicht mehr vorstellen kann, wie man vor der Diagnose überhaupt ein trendiges Leben führen konnte. Als bestes Beispiel kommt mir hierfür gerade die Kampagne für das neue Blutzuckermessgerät Contour Next One von Ascensia in den Sinn. Ein zentrales Motiv, das in sämtlichen Werbe- und Pressematerialien immer wieder auftaucht, ist das einer attraktiven Frau in einem styligen Haus mit tollen Panoramafenstern. Im Hintergrund geht gerade die Sonne unter und taucht die Szene in wunderschön warmes Licht. Die Frau blickt versonnen-verliebt auf das Display ihres Blutzuckermessgeräts und ist mit sich und der Welt so völlig im Reinen, dass jeder Nicht-Diabetiker sofort vor Neid erblasst.

Wer glaubt die Botschaften aus Rama-, Merci- und Tampon-Werbespots?

Sorry Leute, das sind leider völlig realitätsferne Botschaften. Sie haben mit dem echten Leben mit Typ-1-Diabetes ungefähr so viel gemein wie die heile Familienwelt in Werbespots für Merci-Schokolade oder Rama-Margarine mit dem Alltag echter Familien. Oder wie Reklame für ob-Tampons, in der Frauen während ihrer Periode am liebsten in weißen, figurbetonten Klamotten zum Salsakurs gehen und sich eng an ihren Tanzpartner schmiegen, nichts mit dem echten Menstruationsalltag von Frauen zu tun hat, die sich in Wahrheit an ihren „Tagen“ nämlich meist nicht so wohl in weißen Klamotten fühlen, weil auch ein ob-Tampon keine hundertprozentige Sicherheit vor verdächtigen Flecken in der Wäsche bietet. Ist zwar blöd, aber deswegen nicht weniger real.

Ein Hirngespinst wie der Mythos der glücklichen alleinerziehenden Karrierefrau

Die Aussage „Das Leben mit Diabetes funktioniert heutzutage ganz ohne Einschränkungen“ ist ebenso ein Hirngespinst wie der Mythos der alleinerziehenden Mutter, die glücklich, frei und selbstbestimmt – natürlich schlank, faltenfrei und urlaubsgebräunt – Kind, Haushalt und Karriere wuppt und lockerflockig alle an sie gestellten Erwartungen erfüllt. Ich weiß zufällig ziemlich genau, wovon ich in diesem Punkt spreche, denn ich war elf Jahre lang alleinerziehend. Das war eine Zeit mit Höhen und Tiefen, die mich vor allem eins gelehrt hat: Es funktioniert nicht ohne Abstriche. Abstriche beim verfügbaren Geld, bei der Zeit für sich selbst, bei der Karriere, bei Erziehungsgrundsätzen, beim Liebesleben.

Abstriche beim Essen, beim Schlaf, vielleicht auch bei der Lebensplanung

Und nicht anders ist es auch beim Leben mit Typ-1-Diabetes. Mein Pankreas hat mich verlassen, ich bin also alleinerziehende Verantwortliche für meinen Glukosestoffwechsel, und das bedeutet Abstriche. Abstriche bei der Spontanität, Abstriche beim Essen, Abstriche beim Schlaf, Abstriche vielleicht auch bei der Lebens-, Familien- oder Karriereplanung. Denn es gelingt eben nicht selbstverständlich, eine „ganz normale“ Ernährung ordentlich und ohne große Ausreißer mit Insulin auszupendeln. Das wird jedem klar, der sein ach so schnelles Analoginsulin erst nach dem Gang ans All-you-can-eat-Sushi-Buffet spritzt und dann seine Glukoseverläufe per FGM oder CGM beobachtet. Schöne, also flache Glukoseverläufe gelingen ohne größere Mühe nur, wenn man Kohlenhydrate radikal reduziert – was viele eben nicht als „normal“ empfinden. Bei „normaler“ Ernährung bekommt man tolle Glukoseverläufe nur dann hin, wenn man enorm viel Hirnschmalz in das Feintuning steckt und seine gesammelten Diabetesdaten regelmäßig intensiv auswertet. So viel zum Thema „alles essen“. Manche Berufswünsche lassen sich mit Typ-1-Diabetes nicht erfüllen. Ebenso ist man aufgrund des Diabetes eben nicht jeden Tag fit genug für intensive Sporteinheiten, kann nicht so spontan wie Nicht-Diabetiker einfach nur mit einem Schlüssel in der Hosentasche aus dem Haus gehen, muss permanent im Hintergrund rechnen, planen, auswerten.

calculation-1874770_960_720

Diabetes ist mit Einschränkungen verbunden, Punkt.

Ich will nicht jammern, schließlich geht einem all das mit ein bisschen Routine nach einer Weile leichter von der Hand als es sich vielleicht anhören mag. Aber es sind eben doch massive Einschränkungen, die einen in regelmäßigen Abständen nerven, frustrieren, wütend oder niedergeschlagen stimmen. Und ich finde, auch das sollte Menschen mit Typ-1-Diabetes in aller Deutlichkeit gesagt werden, damit sie wissen, dass dieser Frust normal ist. Damit sie nicht das Gefühl haben, dass sie versagt haben, wenn ihr Diabetesalltag nichts mit dem in all diesen Werbelügen verbreiteten, weichgezeichneten Bild vom Diabetesalltag gemein hat.

Wenn’s nicht läuft, machen sich Frustration und Schuldgefühle breit

Denn angesichts lückenloser Glukoseprofile, die unbarmherzig alle Kohlenhydrate offenbaren, bei denen man sich in Menge und erforderlichem Spritz-Ess-Abstand verschätzt hat, sind immer mehr Diabetiker unzufrieden, frustriert und enttäuscht von sich selbst – weil bei ihnen eben nicht alles so rund läuft, wie es doch angeblich möglich sein sollte. Beim T1Day  in Berlin erzählte der Diabetes-Coach Ivo Rettig über dieses Phänomen: „Man muss den Anspruch an sich selbst auch manchmal relativieren, liebevoll und achtsam mit sich selbst umgehen, denn Schuldgefühle bringen nicht weiter.“ Etliche Typ-1-Diabetiker im Publikum nickten. „In den sozialen Medien posten viele Diabetiker beneidenswerte Glukosekurven. Dann schaut man sich seine eigenen Kurven an und denkt, man sei der einzige Diabetiker mit schlechten Werten“, sagte eine Zuhörerin, „das kann ziemlich viel Druck aufbauen.“ (Ich gebe zu, dass auch ich in den sozialen Medien gelegentlich schöne Glukosekurven poste. Allerdings nicht, um anderen ein schlechtes Gefühl zu vermitteln, sondern weil ich mich freue und meine Freude gern teilen möchte, wenn mir etwas gut gelungen ist. Dass es auch anders laufen kann, will ich euch aber auch nicht vorenthalten. Voilà, hier meine Glukoseverläufe zweier zuckertechnisch eher bescheidenen Tage)

Was spendet am meisten Trost?

Beim T1Day rieten Ivo und auch etliche Zuhörer im Plenum, sich mit Motivationssprüchen zu helfen, wenn das Diabetesmanagement gerade nicht perfekt läuft. „Ich laufe schließlich einen Marathon mit einem Holzbein“ oder „Ich habe das Bestmögliche getan – denn wenn ich es besser gekonnt hätte, hätte ich es auch besser getan“ waren Mantras, mit denen sich einige der Zuhörer selbst in solchen Fällen trösten. Das ist sicherlich nicht verkehrt. Doch ich habe noch eine andere Idee, und sie betrifft die Botschaften, die Typ-1-Diabetikern von der Diabetesindustrie und in Schulungen vermittelt werden. Bitte sagt uns doch einfach mal ganz ehrlich, wie es ist: „Diabetes wird dich in deinem Leben einschränken. Das ist blöd, aber leider nicht immer vermeidbar. Wenn du deine Erkrankung akzeptierst, wird es dir leichter fallen, mit diesen Einschränkungen zu leben.“ Wie wäre das?

 

 

12 Kommentare zu “Schluss mit den Werbelügen: Leben mit Diabetes heißt leider auch Leben mit Einschränkungen!

  1. hey, mit etwas Verspätung auch nochmal mein Kommentar…gebe mir ja Mühe, dem Auf und Ab zu trotzen…das schlechte Gewissen bleibt aber häufig…Sehr realer Artikel – immer noch aktuell 🙂 ! Danke…

    Like

  2. Pingback: "Nur Positives am Diabetes" Artikel im Diabetes-Journal - Lisabetes

  3. Danke für den wirklich tollen Artikel. Ich weiß erst seit drei Wochen von meinem Typ 1 Diabetes und stehe noch ganz am Anfang. Da helfen offene und ehrliche und auch sehr lustig geschriebene Worte sehr! Ich freue mich Deinen Blog gefunden zu haben☺️

    Like

    • Willkommen im Club… und toi toi toi für die blöde erste Zeit mit deinem neuen Begleiter… melde dich gern, wenn du Fragen hast oder Trost brauchst! 😊

      Like

  4. Pointierter und kluger Beitrag! Die schöne heile Diabetes-Welt wird ja nicht nur in der Werbung, sondern gerade auch in der bloging-Szene und den sozialen Medien im Allgemeinen aufgebaut. Einerseits verständlich, ich möchte auch eher motivierende Geschichten lesen. Andererseits rücken die Belastungen dabei viel zu oft in den Hintergrund. Ich fand es z.B. hervorragend, wie du schon über deine Schwierigkeiten mit der Erstattung der Libre-Sensoren durch die TK berichtet hast. Ähnliche Berichte über derlei Probleme findet man in der Blogospshäre kaum. Ich glaube auch, dass das zu einem guten Teil damit zusammen hängt, dass wir Diabetiker uns an all diese Belastungen schon so sehr gewöhnt haben und ein objektiver Blick auf die Situation fehlt. Zu deinen GZ-Verläufen wollte ich noch sagen: Herzlichen Glückwunsch! 🙂 Wenn die beiden Tage als Beispiele für schlechte Zuckerverläufe herhalten müssen, läuft’s bei dir! 😉 #nopressure

    LG Micha

    Like

  5. Ich kann mich nur noch den Kommentaren anschließen. Danke für offene Worte und eine humorvolle Einstellung .

    Gefällt 1 Person

  6. Klasse Artikel. Auf den Punkt gebracht, dass der Alltag mit Diabetes eben doch so seine Tücken hat.

    Gefällt 1 Person

  7. Danke für die tollen Zeilen und die wahren Worte.
    So sieht’s leider wirklich aus.

    Gefällt 1 Person

  8. Danke für diesen Beitrag. Humorvoll und ohne Selbstmitleid auf den Punkt gebracht!

    Gefällt 1 Person

  9. Endlich Jemand der schreibt wir es ist. Als eine Oberärztin in einer renommierten Klinik (nicht wegen Diabetes) vor einigen Wochen zu mir sagte, das ich mich „nur einstellen lassen“ müsse antwortete ich ihr nur, da sie das gerne versuchen könne, wenn sie den Einstellknopf findet. Da habe ich mal wieder erlebt wozu die sonstige Positivberlinmering der Menschen führt, nämlich dazu, das man nicht mehr ernst genommen wird. Ist ja alles so locker und easy……

    Gefällt 1 Person

  10. Guter Artikel, direkt aus dem Leben gegriffen, möchte man sagen.
    Ich hatte die Mundwinkel schon zum Grinsen hochgezogen, bis mir einfiel, dass ich 5 Jahre lang mit den „schnellen“ Insulinen“ hinter die Fichte geführt worden bin, von Diabetologen/Endokrinologen. Bei Blutzucker Werten unter 5mmol musste ich NACH der Mahlzeit spritzen, ansonsten davor. Ohne Angabe wie lange danach oder davor und ohne Angabe über die KH/KE/BE Menge der Mahlzeit.
    Nachts habe ich oft schweissgebadet vor dem Kühlschrank gelegen. Das war abenteuerlich. Irgendwie ein Vernichtungsprogramm.

    Spritz-Essabstand, doch nicht bei den schnellen Insulinen, das war früher! Basal-Bolus ca. 50%, das war früher. Man muss das nicht so genau sehen, man will ja auch noch LEBEN war die Ansage; und vor allem nicht so viele Teststreifen verbrauchen.

    Ein Hb Wert von 9,5%, kann ja mal passieren. Davon geht die Welt nicht unter.
    Folgekrankheiten, das war früher. Wie schreibt man das?

    Aber halt, warte mal, Du nimmst noch keine Statine, das geht gar nicht, Du hast Dich noch nicht x-mal impfen lassen, das geht auch nicht!
    Irgendwann bin ich wach geworden und in Deutschland zu einer Schulung gegangen, ich wohne in der Schweiz, da wird Schulung für T1 Diabetiker gang, ganz, ganz klein geschrieben. Kein Quatsch! Ganz vereinzelt mal ein FIT Programm, 5 Wochen mit 2 Std. pro Woche.

    Irgendwie kommt immer Wilhelm Busch in den Kopf mit seinem Gedicht: Was bringt den Arzt um Lohn und Brot…..

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar