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Leben mit Diabetes: Woran man echte Verbündete erkennt

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Vor ein paar Tagen habe ich auf meiner Facebook-Seite bereits den Link zu einem tollen Blogbeitrag geteilt, in dem es um die echten Verbündeten von Menschen mit Behinderungen geht: Woran erkennt man sie? Und wer gibt nur vor, Verbündeter zu sein und zeigt im Alltag dann doch übergriffiges oder anmaßendes Verhalten?

Christianes Blogbeitrag „Woran man Verbündete behinderter Menschen erkennt (und wie man eine/r wird)“ ist eher allgemein gehalten, ihre 10 Punkte lassen sich daher auf jegliche Art von Behinderung anwenden – ob körperliche oder geistige Behinderung, gravierende oder weniger starke, sichtbare oder unsichtbare Beeinträchtigung. Ich habe auf Facebook schon ganz spontan schon ein paar von Christianes Punkten auf das Thema Diabetes hin konkretisiert. Das Thema hat mich aber nicht losgelassen.

Als chronische Erkrankung ist auch Diabetes eine Behinderung. Es gibt ja Leute, die das vehement bestreiten, sogar Menschen mit Diabetes. Doch es kann im Alltag einfach enorm hinderlich sein, 24/7 die Funktion eines defekten Organs zu übernehmen. Klar ist die Diabetestherapie in den vergangenen Jahren einfacher geworden. Klar „gibt es Schlimmeres, zum Beispiel Krebs“. Doch damit geht es eigentlich schon los. Nur weil es Erkrankungen oder Beeinträchtigungen gibt, die unter Umständen gravierender sind als meine, heißt es ja nicht, dass ich im Alltag durch meine Erkrankung nicht behindert würde.

Wer mit einer chronischen Erkrankung oder Beeinträchtigung lebt, braucht Verbündete. Das ist auch beim Diabetes so. Verbündete sind Menschen, die auf unserer Seite stehen, für unsere Belange eintreten. Doch leider halten sich manche Leute für Verbündete, die im Grunde herzlich wenig davon verstanden haben, was es bedeutet, mit Diabetes zu leben. Gut gemeint ist eben nicht zwangsläufig gut gemacht. Ich will hier also mal meine auf Facebook kurz angerissenen Gedanken etwas weiter ausführen und beschreiben, was aus meiner Sicht echte Verbündete ausmacht. Ihr dürft diese Liste – wir können sie vielleicht auch „Knigge“ nennen – gern ergänzen!

  1. Echte Verbündete erklären mir nicht, wie schwer meine Erkrankung ist. („Mit Diabetes kann man doch heute gut leben!“ oder „Sei doch froh, dass es kein Krebs ist!“ oder „Mit dieser ganzen neuen Technik läuft das mit dem Diabetes doch inzwischen ganz automatisch!“) Solche Sprüche sind vermutlich nett und ermutigend gemeint, doch sie sind trotzdem Unsinn. Denn wie groß oder klein die Belastung für mich ist, weiß doch allein ich selbst – und muss mich dafür auch nicht rechtfertigen. Echte Verbündete interessieren sich dafür, wie ich das Leben mit meiner Erkrankung empfinde – ich kann das gut selbst beschreiben.
  2. Echte Verbündete geben mir nicht ungefragt Ratschläge, wie ich meine Erkrankung managen sollte, weil sie dazu ja was gelesen oder gehört haben („Mein Nachbar hat ja auch ganz schlimm Diabetes, doch jetzt hat er es im Griff, denn er hat Zimtlotion aufgetragen / bei Mondschein mit Kaktusfeigentee gegurgelt / gar keine Kohlenhydrate mehr gegessen / gar kein Fett mehr gegessen / gar kein Protein mehr gegessen / überhaupt nicht mehr gegessen / XXX“). Das gilt übrigens nicht nur für Außenstehende, sondern auch für Menschen innerhalb der Diabetes-Community! Wie oft hört oder liest man da schnell hingerotzte Tipps wie „Du solltest bei diesen Werten unbedingt einen Basalratentest machen!“ oder „Warum steigst du nicht auf eine Insulinpumpe um? Damit wäre das viel leichter zu handhaben!“ Echte Verbündete fragen stattdessen einfach nach, wie ich meine Erkrankung manage, ohne das zu werten. Meinetwegen auch, warum ich mich für diese oder jene Variante entschieden habe. Und dann lassen sie mich erzählen.
  3. Echte Verbündete stellen keine Diagnosen, sofern sie nicht der Arzt oder die Ärztin meines Vertrauens sind. Muss ich das näher ausführen? Ein Medizinstudium nebst anschließender fachärztlicher Weiterbildung ist nicht umsonst eine Angelegenheit von vielen Jahren. Und auch wenn die Erfahrungen anderer mir oft gute Gedankenanstöße geben – eine Diagnose stellt ein Arzt oder eine Ärztin, Punkt.
  4. Echte Verbündete erklären mir nicht, warum ich Diabetes habe. Für Typ-1-Diabetes als Autoimmunerkrankung gibt es bislang keine wissenschaftlich abgesicherte Erklärung, ganz zu schweigen von der „Schuldfrage“. Nein, ich habe nicht als Kind zu viel Zucker genascht. Und selbst wenn, das wäre nicht der Auslöser für meinen Diabetes gewesen. Ja, ich wurde nicht sonderlich lange gestillt. Ja, ich hatte vielleicht mal einen verschleppten Infekt. Keine Ahnung, ob ich genug Vitamin D abgekommen habe. Es ist auch einfach müßig, darüber nachzudenken. Wenn die Wissenschaft eine Erklärung gefunden hat, bin ich natürlich sehr interessiert an den Zusammenhängen. Doch die Erklärung wird nichts mehr an meinem Zustand ändern. Also lasst uns lieber über das Hier und Jetzt reden. Das gilt übrigens nicht nur für Typ-1-Diabetes, sondern auch für Typ-2-Diabetes. Denn ja, ein ungesunder Lebensstil kann entscheidend dazu beitragen, dass ein Typ-2-Diabetes entsteht. Aber das alles passiert nicht ohne die entsprechende genetische Veranlagung. Übrigens werden fast alle Zivilisationskrankheiten durch einen ungesunden Lebensstil begünstigt. Doch bei keiner wird so massiv die Schuldkarte ausgespielt wie beim Diabetes.
  5. Echte Verbündete entscheiden nicht für mich, was ich essen darf. Zu den Sätzen, auf die wohl jeder Mensch mit Diabetes allergisch reagiert, zählen „Ach schade, du darfst das ja nicht essen!“ oder „Nach diesem Stück Kuchen ist aber Schluss!“ Was glauben diese Leute eigentlich, was ihr Körper macht, wenn sie Kuchen essen? Richtig: Insulin ausschütten um den Glukoseanstieg abzufangen. Und genau das mache auch ich, wenn ich mir Insulin spritze. Manchmal esse ich auch Kuchen oder Schokolade, weil mein Glukosewert gerade niedrig ist. Ich habe meine Glukosekurven im Blick und weiß, was gerade geht und was eher nicht. Auf Verbote reagiere ich persönlich auch gern trotzig mit „Jetzt erst recht!“ Echte Verbündete helfen mir also eher herauszufinden, wie viele Kohlenhydrate in dem Essen enthalten sind, damit ich mein Insulin möglichst exakt dosieren kann. Sie versuchen also beispielsweise, die kleingedruckten Nährwertangaben zu entziffern und nehmen mir die leidige Textaufgabe (hallo Dreisatz!) ab. Danke an dieser Stelle an meinen liebsten echten Verbündeten, meinen Mann Christoph, der gerade an der mathematischen Front so oft die Stellung hält…Christoph Dreisatz
  6. Echte Verbündete bewerten mich nicht aufgrund meiner Glukosewerte. Manchmal sieht so eine Glukosekurve aus wie Kraut und Rüben (ja, auch bei mir, gestern war erst wieder so ein Tag, an dem mich mein Zucker leider nach Strich und Faden verarscht hat). Da brauche ich niemanden, der mir beim Messen über die Schulter schaut und Dinge sagt wie „Was hast du da denn wieder für einen Mist gemacht?“ oder „Hättest du da nicht besser aufpassen können?“ Denn jedes Diabetesmanagement ist im Grunde eine Aneinanderreihung von Fehleinschätzungen, die man erst im Nachhinein durchschaut. Und auch die Motivation ist nicht an jedem Tag gleichbleibend gut. Das ärgert mich selbst schon zur Genüge. Manchmal macht es mir auch Angst. Ein echter Verbündeter (wie Christoph zum Beispiel ❤ ) macht mir dann keine Vorwürfe, sondern sagt Dinge wie: „Oh, dein Wert ist ganz schön hoch – hilft es dir, wenn wir eine Runde spazieren gehen? Ich könnte auch noch ein bisschen Bewegung gebrauchen!“

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    Wen dieses Chaos näher interessiert: Ich habe zum Frühstück weniger Insulin gespritzt, weil ich eine „Triathlon-Generalprobe“ geplant hatte und einen etwas höheren Wert angestrebt hatte. Über 250 mg/dL war mir zwar zu hoch, doch ich wollte vor dem Training nicht korrigieren. Zum Schwimmen ging es mit knapp über 200 mg/dL, dann mit zusätzlich 1,5 KE auf’s Rad. Nach dem Radfahren drohte ich zu unterzuckern (75 mg/dL stark fallend) und warf zum Laufen weitere 3KE ein. Dieser Traubenzucker zündete aber erst nach dem Laufen so richtig durch – das ist die zweite heftige Spitze von über 250 mg/dL in meinem Tagesprofil. Danach einfach nur der normale Wahnsinn mit Spaziergang zum Italiener, Pasta, Spaziergang zurück, leichte Hypo, Muskelauffülleffekt etc. Übrigens kriegte mein Zucker erst um 6 Uhr morgens so richtig spitz, dass ich am Abend gegen 20 Uhr Pasta mit Lachs und Sahnesoße gegessen hatte. Dieser Anstieg auf etwas über 200 mg/dL ist hier auf diesem gestrigen Tagesprofil schon gar nicht mehr drauf. Tja, shit happens!

  7. Echte Verbündete denken den Diabetes einfach ein bisschen mit. Es braucht kein großes Getöse (also nicht „hier findet ihr die einzig wahre diabetesfreundliche Party des Nordens!“), sondern es sind die kleinen Gesten, die mir Freude machen: Wenn meine Mitmenschen Traubenzucker horten und in ihrer Tasche dabei haben, damit sie mir helfen können, falls ich mal unterwegs unterzuckere. Wenn sie im Getümmel mein Diabetestäschchen halten und mich ein wenig abschirmen, damit ich in Ruhe Insulin spritzen kann. Wenn sie mir pi mal Daumen die Zutaten ihrer Koch- und Backwerke nennen können, weil sie wissen, dass dies für mich relevante Informationen sind.
  8. Echte Verbündete grenzen mich nicht wegen meines Diabetes aus. Anstatt mir zu sagen, warum dies oder jenes mit Diabetes nicht möglich ist, überlegen sie gemeinsam mit mir, wie man Hindernisse beseitigen könnte, die meiner Teilhabe entgegenstehen. Das gilt für sportliche Aktivitäten ebenso wie für die Teilnahme an Events – ich möchte an dieser Stelle nochmal an meinen Fehlschlag beim Besuch von „Dinner in the Dark“ erinnern, wo mir am Ende allen Ernstes ein Mitarbeiter nahelegte, mein Mann könne statt mit mir doch mit jemand anderem zu der Veranstaltung kommen, wenn das wegen der fehlenden Kohlenhydrat-Angaben für mich zu schwierig sei.
  9. Echte Verbündete halten sich selbst nicht für Quasi-Diabetiker. Klar, wenn man mit Menschen mit Diabetes zu tun hat, dann kriegt man einiges mit und bekommt einen mehr oder minder guten Eindruck davon, wie es sich mit dieser Erkrankung lebt. Doch das macht einen stoffwechselgesunden Menschen noch nicht zum Quasi-Diabetiker, nicht man zu einem halben. Auch dann nicht, wenn er sich mal vorübergehend einen Glukosesensor anklebt, eine (mit Kochsalz gefüllte) Insulinpumpe trägt, seine Werte dokumentiert und seine Kohlenhydrate berechnet. Beate vom Nachbarblog „Beate putzt“ hat kürzlich einen schönen Beitrag über solche vermeintlichen Inklusionsexperimente geschrieben. Und auch bei Renza von „Diabetogenic“ gab es kürzlich einen guten Beitrag mit ähnlichem Hintergrund (Achtung, Englisch!). Um noch einmal auf meinen Lieblingsmenschen Christoph zurückzukommen, der wohlgemerkt ein Top-Verbündeter ist, dann würde ich ihm zwar gern mal einen Freestyle Libre-Sensor überlassen um zu schauen, wie seine Glukosekurven als Stoffwechselgesunder sind. Doch er hätte trotzdem keine authentische Diabetes-Erfahrung gemacht, einfach weil er eben keinen Diabetes hat. Wer sich mal probehalber einen Sensor anklebt (oder für eine Woche im Rollstuhl fortbewegt), kann danach sein ganz normales Leben wieder aufnehmen. Der muss sich nicht um mögliche Folgeerkrankungen, psychische Begleiterscheinungen, Quartalsbesuche beim Diadoc mit HbA1c-Bangen etc. sorgen. Echte Verbündete machen so einen Quatsch vielleicht mal interessehalber mit, wissen aber trotzdem, dass das nicht das „echte Leben mit Diabetes“ widerspiegelt.
  10. Echte Verbündete schieben nicht alles auf den Diabetes. Auch Menschen mit Diabetes haben mal schlechte Laune oder sind blöd und ungerecht – ganz unabhängig von ihrer Stoffwechselerkrankung. Da hilft es nicht, wenn ein Mitmensch sie gönnerhaft mit der Universalausrede „Oh, das hast du jetzt sicher nicht so gemeint, miss doch mal deinen Zucker!“ von jeder Verantwortung freispricht. Das ist vielleicht nett gemeint, doch wir können dem Diabetes auch nicht alles in die Schuhe schieben. Manche Menschen mit Diabetes werden vielleicht aggressiv und unausstehlich, wenn sie unterzuckert sind. Dann sollte man fix ihren Zuckerpegel anheben und die Beschimpfungen ignorieren. Aber das heißt im Umkehrschluss nicht, dass IMMER der Diabetes dahintersteckt, wenn ein Diabetiker sich ärgert oder gar danebenbenimmt. Genau wie eine schlechtgelaunte Frau nicht zwingend gerade ihre Periode hat. Der Diabetes ist nicht der einzige Einflussfaktor in unserem Leben. Auch Menschen mit Diabetes haben blöde Chefs, verpassen den Bus oder kriegen Schnappatmung, wenn das Heute Journal über Donald Trumps Tweets berichtet. Es ist halt nicht alles Zucker.

3 Kommentare zu “Leben mit Diabetes: Woran man echte Verbündete erkennt

  1. Kleiner Hinweis der nicht als Ratschlag gemeint ist sondern nur zum Nachdenken anregen soll.
    Nach meinem Kenntnisstand sind nach der Lebensmittelinformationsverordnung bei Angabe von
    Kohlenhydraten Toleranzen zulässig. In dem Rechenbeispiel von Ehemann Christoph wäre bei
    Berücksichtigung der Toleranz somit nicht 29,175 KH sondern ein beliebiger Wert zwischen 23 – 35 KH
    anzunehmen.
    Je nach persönlichem ISF (Insulin Sensitivity Faktor) kann diese Toleranz spürbare Auswirkungen auf den BZ haben.

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    • Das ist ein sehr guter Punkt, über den ich auch schon eine ganze Weile nachdenke. Es gibt beim Diabetes an allen Fronten so viele Unsicherheiten: bei, Nährwertgehalt der Lebensmittel, der Berechnung der KH, der Genauigkeit der Insulinzufuhr, der Messgenauigkeit der Systeme, dass unser Leben eigentlich ein einziges Lotteriespiel ist. Noch habe ich diese Gedanken nicht in einem Blogbeitrag zusammengefasst, aber das kommt hoffentlich bald noch! 🙂

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  2. Bravo, Antje!

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