Zu meinem Blogbeitrag von vorgestern, in dem ich über eine Sitzung zur Rolle von Selbsthilfegruppen beim Diabetes-Kongress der DDG berichtet habe, gab es eine Reihe interessanter Kommentare. Darin ging es vor allem darum, dass eine Online-Community nicht den persönlichen Austausch ersetzen kann.
Stimmt genau! Deshalb an dieser Stelle noch eine kleine Ergänzung. So kommentierte eine Leserin:
(…) In den 80ern als ich zu den jungen Diabetikern gehörte, als es noch kein Facebook, kein Internet, keine Blogs, wenige Diabetologen gab, da war die Selbsthilfegruppe für Typ1 unabdingbar. Mein Hausarzt empfahl mir bei der Diagnosestellung: gehen Sie in eine Gruppe, holen Sie sich Informationen woher es nur geht, lesen Sie alles, was angeboten wird, ich verschreiben Ihnen alles, was Sie brauchen und haben wollen. In der Selbsthilfegruppe habe ich nicht nur Info über Therapie, Insulin und Materialien bekommen, sondern ich habe „richtige, echte“ Freunde gefunden. Wir waren junge Mütter und Väter und noch Jüngere……..Wir haben zusammen Theater gespielt und Skifreizeiten mit und ohne Beinbruch erlebt. Wir haben „live“ Erfahrungen gesammelt und sie gemeinsam umgesetzt. Ich habe Kontakte zu Ärzten und Industrie bekommen.Konnte alles Neue ausprobieren. Ich habe gelernt, dass ich Verantwortung für mich und meine Gesundheit übernehmen muss. Heute weiß ich, dass ich nie so gesund und fit geblieben wäre, wie ich heute bin, wenn ich das nicht gehabt hätte. (…) Ich weiß nicht, ob Facebook mit einer „realen“ Selbsthilfegruppe vergleichbar ist.
Dazu möchte ich einmal die Geschichte unseres Hamburger Typ-1-Stammtischs erzählen, die ich in meinem Beitrag vorgestern eigentlich auch schon hätte erwähnen können (wodurch der Beitrag aber noch einmal um einiges länger geworden wäre, und ich strapaziere die Lesegeduld meiner Leser doch immer schon so sehr…:-) ). Und diese Geschichte beginnt auf Facebook.
Austausch mit Leidensgenossen ist tröstlich, witzig und hilfreich
Irgendwann im Jahre 2011 oder so, meine Diabetes-Diagnose war gerade ein gutes Jahr her und ich war noch ein ziemlicher Neuling in den sozialen Medien, wurde ich auf eine bundesweite Facebook-Gruppe für Typ-1-Diabetiker aufmerksam. Für mich, die ich bis dato weder in meiner Diabetespraxis, noch im Alltag mit anderen Typ-1-Diabetikern in Berührung gekommen war, war diese Gruppe eine Offenbarung. Nicht dass die Beiträge ihrer Mitglieder ärztlichen Rat ersetzt hätten, aber der Austausch mit Leidensgenossen war doch sehr tröstlich und oft genug auch witzig. Endlich einmal andere Leute, die wirklich wissen, was ich meine, wenn ich über einen Blutzuckerwert von 260 mg/dl schimpfe oder mich über einen Nüchternwert von 100 mg/dl freue.
Von der Facebook-Gruppe zum Hamburger Stammtisch
Im Vorfeld des Hamburger Marathons 2012 warf irgendjemand in der Facebook-Gruppe die Frage in den Raum, wer denn alles zum Marathon angemeldet ist und ob man sich nicht einmal live treffen möchte. Es meldete sich eine ganze Reihe von Leuten, und heraus kam ein Treffen im Hamburger Portugiesen-Viertel am Vorabend des Marathons. Um die lange Tafel herum saßen etwa 20 (?) Typ-1-Diabetiker, von denen immer mal jemand seinen Blutzucker maß oder an seiner Insulinpumpe herumdrückte. Einer der Marathonläufer wurde für sein CGM-System bestaunt, das damals noch kaum verbreitet war. Die Läufer unterhielten sich über ihr Blutzuckermanagement beim Sport, wann sie am Morgen aufstehen und frühstücken wollten um beim Marathon-Start kein aktives Insulin mehr im Körper zu haben und wie viele KE sie in welcher Form mit sich führen wollten. Die anderen lauschten ehrfürchtig und schnackten ansonsten munter über ihre eigenen Themen. Es war das erste Mal, dass ich mit so vielen anderen Typ-1-Diabetikern in einem Raum war, und es veränderte sehr viel in meinem Denken und Fühlen, meiner Wahrnehmung des Typ-1-Diabetes.
Messen und Spritzen in der Öffentlichkeit
So hatte ich mich zum Beispiel vor diesem ersten Treffen immer gescheut, in der Öffentlichkeit meinen Blutzucker zu messen oder Insulin zu spritzen. Nicht, weil ich mich für meine Erkrankung schäme, sondern einfach, weil ich nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen wollte. Ich empfand es auch nicht als störend, mich in einem Restaurant für meine Diabetesaktivitäten in den Toilettenraum zurückzuziehen – schließlich achtete ich als gewissenhafte Neu-Diabetikerin ohnehin penibel darauf, mir vor jeder Blutzuckermessung die Hände zu waschen. „Wenn ich ohnehin schon zur Toilette gehe und mir die Hände wasche, kann ich im Waschraum auch gleich mein Spritzbesteck zücken und muss nicht an meinem Platz umständlich unter dem Tisch hantieren“, dachte ich mir. Den Abend vor dem Hamburg-Marathon 2012 verbrachte ich aber nun mit Leuten, die alle ganz offen am Tisch ihren Blutzucker maßen, Kohlenhydrateinheiten ausrechneten, ihren Insulinpen zückten und ihre Pumpe bedienten. Und niemand an den anderen Tischen nahm groß Notiz davon. Mir halfen dieser Abend und die daraus folgenden ungemein, im Umgang mit meinem Diabetes in der Öffentlichkeit einfach lockerer zu werden.
Monatlicher Stammtisch, Lauftreff, Netzwerken und Feiern
Auch die anderen Teilnehmer dieses ersten Treffens hatten Spaß, und so gründeten wir fix eine eigene Facebook-Gruppe für Typ-1-Diabetiker in Hamburg. Seither hat es jeden vierten Donnerstag im Monat einen Stammtisch gegeben. Aus dem Stammtisch sind Freundschaften entstanden, gemeinsame Aktivitäten… nahezu all das, was meine Blogleserin aus ihrer Selbsthilfegruppe in den 1980er Jahren beschreibt. Eine ganze Zeitlang trafen sich einzelne Mitglieder des Hamburg-Stammtischs jede Woche im Hamburger Stadtpark zu einem Lauftreff, mit Ausklang im Biergarten, zu dem auch häufig Nicht-Läufer dazustießen. Später verlagerten wir die Laufrunden in den Norderstedter Stadtpark, momentan sind sie leider eingeschlafen, weil die Laufinteressierten unter uns ziemlich verstreut wohnen und sich erstmal länger ins Auto schwingen müssten, um zum gemeinsamen Laufkurs zu gelangen. Doch das Interesse an gemeinsamen Aktivitäten ist geblieben – sei es, dass wir Fahrgemeinschaften zum T1Day nach Berlin bilden, wo wir uns – ebenfalls live und in Farbe – für ein Wochenende mit anderen Typ-1-Diabetikern austauschen und vernetzen, sei es, dass wir uns gegenseitig zu Geburtstagen oder anderen privaten Feiern einladen.
Gemeinsame sportliche Wettkämpfe mit anderen IDAA-Mitgliedern
Weitere persönliche Kontakte kamen für mich durch die IDAA zustande, die Vereinigung diabetischer Sportler, in der ich seit ein paar Jahren Mitglied bin. Über die IDAA habe ich andere sportbegeisterte Typ-1-Diabetiker aus Hamburg und Schleswig-Holstein kennen gelernt, mit denen mein Mann und ich regelmäßig gemeinsam bei Wettkämpfen antreten, zum Beispiel als Staffel beim Hamburg Marathon, als Einzelstarter beim Hamburg Triathlon, als Staffel beim Sibirien-Marathon oder beim Münster Marathon, oder als Einzelstarter beim Itzehoer Störlauf. Und bestimmt habe ich noch einzelne Events vergessen, bei denen wir gemeinsam angetreten sind. Der Kontakt zu anderen IDAA-Mitgliedern, die sich übrigens auch über einen internen Bereich auf der IDAA-Homepage online austauschen können, bestärkt mich regelmäßig darin, mir trotz Typ-1-Diabetes sportlich Dinge zuzutrauen, an die ich sonst nicht zu denken gewagt hätte. Auf die IDAA bin ich übrigens seinerzeit über einen Freund aufmerksam geworden, den ich über die Hamburger Facebook-Gruppe kennen gelernt habe. Und so schließt sich der Kreis…
Ohne ein unkritisches Loblied auf Marc Zuckerberg und seinen Konzern singen zu wollen, muss ich doch einfach feststellen, dass unsere heutige Diabetes-Community – online wie offline – ohne Facebook wohl kaum so aktiv wäre oder vielleicht sogar gar nicht existieren würde. Sie ist vielleicht nicht so gut greifbar und quantifizierbar wie analoge Selbsthilfegruppen, die im Vereinsregister eingetragen sind und einen Vorsitzenden sowie eine Postanschrift haben. Doch sie lebt – und das bei weitem nicht nur online.