Liegt es etwa an der Lichtzufuhr, dass ich meine tägliche Basaldosis deutlich erhöhen muss, wenn die Tage wieder kürzer werden?
Wenn der Sommer vorbei ist und man so langsam dran denken muss, bei seinem Auto die Winterreifen aufziehen zu lassen, dann meldet sich bei mir mit schöner Regelmäßigkeit mein Blutzucker und verlangt nach Veränderungen. Mit dem Blutzucker ist ja leider so wie mit einem Säugling: Er kennt keine anderen Ausdrucksformen als zu schreien – und als Wirt des lästigen diabetischen Plagegeists steht mir dann eine ähnlich investigative Spurensuche bevor wie der Mutter eines Neugeborenen, die an ihrem schreienden Baby verzweifelt: Windel voll? Hunger? Durst? Langeweile? Blähungen? Für und Diabetiker heißt das übersetzt in etwa: Basalrate im Lot? KE-Faktor korrekt? Spritz-Ess-Abstand korrekt? Mahlzeit falsch eingeschätzt? Bewegung einkalkuliert? Infekt im Anmarsch? Gefühlschaos oder Stress? Schließlich können sich all diese Dinge mehr oder weniger drastisch auf unseren Blutzucker auswirken.
Von 7 IE rauf auf 13 IE Lantus binnen weniger Wochen
Wenn ich im Spätsommer allerdings hohe Nüchternzuckerwerte beobachte und auch tagsüber manches nicht so rund läuft wie sonst, dann weiß ich inzwischen, dass es Zeit ist, mein Basalinsulin auf Winterzeit einzustellen. Das ist dann kein gemächlicher Übergang, sondern geschieht ziemlich plötzlich. Dieses Jahr habe ich meine Basaldosis von 7 bis 8 IE Lantus pro Tag (Sommerbasal) im Verlauf des Monats September auf 13 IE Lantus pro Tag (Winterbasal) hochschrauben müssen. Nach ein paar blutzuckertechnisch etwas blöden Wochen (in denen ich nebenbei auch noch mit meinem morgendlichen KE-Faktor und dem Spritz-Ess-Abstand herumexperimentieren musste, aber dazu mehr später in einem der nächsten Blogposts) passt es nun wieder.
Wieso mein Körper im Winter mehr Insulin braucht als im Sommer, konnte mir bislang noch niemand richtig erklären. Ich habe ja die Theorie, dass es mit dem Licht zusammenhängt. Sprich: Wenig Licht führt zu hohem Insulinbedarf, viel Licht zu geringerem Insulinbedarf. Erstmals kam ich auf diese Idee, als ich innerhalb weniger Tage zwei medizinische Fachkongresse besuchte, bei denen sich mein Blutzucker komplett anders verhielt, obwohl (bis auf das Licht!) eigentlich alle Einflussfaktoren vergleichbar waren. Beide Kongresse fanden in Berlin statt. Zu beiden Kongressen fuhr ich nach einem netten Buffet-Frühstück im Hotel (vergleichbare Mahlzeiten-Situation) mit der U-Bahn und musste noch ein gutes Stück zum Kongress laufen (vergleichbare Bewegungssituation). Beide Male musste ich während der Vorträge still in einem Saal sitzen, mich konzentrieren und mitschreiben, damit ich später Artikel fabrizieren konnte (vergleichbares Stress-Level). Beide Male gab es in den Pausen die üblichen Snacks und Erfrischungen (Kaffee, Wasser, Kekse). Und dennoch fuhr mein Blutzucker beim einen Kongress Achterbahn und mochte nicht so recht auf das Insulin reagieren, das ich ihm anbot, während er bei dem anderen Kongress völlig brav mitspielte und den Zielbereich nicht verließ.

Wenn ich mich – wie beim Diabetes Kongress 2015 in Berlin – in Räumen ohne Tageslicht aufhalte, steigt mein Insulinbedarf. Foto © Dirk Michael Deckbar
Kongresssaal mit viel Tageslicht vs. Saal ohne Tageslicht
Der in meinen Augen entscheidende Unterschied war, dass ich mich bei dem einen Kongress den gesamten Tag in Räumen ohne Tageslicht aufhielt, während der andere Kongress in Räumen mit hohen Bodenfenstern und entsprechend normaler Tageslichtzufuhr stattfand. Ich fand meine Beobachtung und damit die Theorie „Viel Licht = wenig Insulinbedarf, wenig Licht = viel Insulinbedarf“ ziemlich schlau und besprach sie beim nächsten Termin gleich einmal mit meinem Diabetologen. Der hielt sie für nicht einmal abwegig, schließlich sei Licht ja auch sonst ein wichtiger Einflussfaktor auf die Gesundheit, Stichwort Winterdepression zum Beispiel. Zudem gebe es zum Beispiel in den skandinavischen Ländern deutlich höhere Neuerkrankungsraten bei Typ-1-Diabetes, für die man noch keine wissenschaftliche Erklärung habe. Allerdings sei ihm keine Studie bekannt, in der explizit das Verhältnis zwischen Insulinbedarf und Lichtzufuhr untersucht worden wäre.
Einfluss von Licht auf den Insulinbedarf ist noch nicht erforscht
Tatsächlich förderte meine Internetrecherche hierzu auch nur unbefriedigende Ergebnisse zutage. Ich fand eine sehr – öhem – esoterisch angehauchte Seite, auf der von hochgeordneter Lichtenergie vs. chaotischer Wärmeenergie die Rede ist, und die deshalb lichtenergetisch aufgeladene Rohkost zur Verbesserung der Insulinempfindlichkeit empfiehlt. Naja. Ein bisschen seriöser ein Artikel im Tagesspiegel aus dem Jahre 2014, in dem es um den Einfluss der Mahlzeiten (und damit der Insulinausschüttung) auf die innere Uhr geht, die ja auch stark vom Licht beeinflusst wird. Okay, aber das trifft meinen Gedanken auch nicht so recht. Eher schon eine japanische Studie (ein englischsprachiges Abstract findet man hier), in der die HbA1c-Werte von Diabetiker im Wechsel der Jahreszeiten untersucht wurden. Wobei man hier allerdings zu dem Schluss gelangte, dass Menschen sich im Winter weniger bewegen und Diabetiker deshalb eher zu höheren Blutzuckerwerten neigen. Von Insulinempfindlichkeit und Insulinbedarf war hingegen nicht die Rede.
Nun denn, der Diabetes bietet halt weiterhin viel Gelegenheit zu forschen und sich einen Nobelpreis zu verdienen. Ich halte die Augen offen – und wundere mich einfach nicht, wenn ich irgendwann im März wieder feststelle, dass ich nachts ein bisschen zu niedrige Blutzuckerverläufe habe und tagsüber gegen mein Basalinsulin anessen muss. Dann ist es wieder Zeit, auf Sommerzeit umzustellen und die Basaldosis zu verringern. Und kurz danach kommen auch wieder die Sommerreifen drauf.
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5. November 2015 um 13:25
Sehr interessanter Beitrag. Die gleichen Beobachtungen habe ich bei mir auch gemacht. Meine Diabetesärztin hat mir aber auch bestätigt, dass diese Bedarfsschwankungen gar nicht so selten sind. Bei mir steigt der Basalbedarf regelmäßig gegen Ende September an und sinkt im März wieder auf „Sommerniveau“ Mit unterschiedlichen Bewegungsmustern lässt sich das zumindest bei mir nicht erklären, da ich mich zu allen Jahreszeiten etwa gleichviel (oder gleichwenig) bewege.
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25. Oktober 2015 um 19:53
Ich habe bei mir auch diese jahreszeitlichen Schwankungen im Insulinbedarf beobachtet. Allerdings treten sie bei mir eher bei äußerlichen Temperaturschwankungen auf (sobald es draußen deutlich kälter wird, beginnen meine Werte verrückt zu spielen). Mein DiaDoc reagierte auf meine Hypothese skeptisch 😦
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6. Oktober 2015 um 0:29
Ich habe mal kurz gegoogelt nach einer jahreszeitlichen Schwankung im Insulinbedarf; es gibt anscheinend eine ganze Menge Literatur dazu. Versuch es doch mal mit dem Term „insulin requirement and seasonality in diabetes“. Viel Erfolg und interessante Ergebnisse 🙂
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4. Oktober 2015 um 14:57
Total interessant! Danke, dass Du uns solche Einblicke gewährst!
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