Seit gestern wird in den Medien viel über einen jungen Mann berichtet, bei dem nach überstandener Covid-19-Erkrankung ein Typ-1-Diabetes festgestellt wurde. Die Geschichte ist interessant, sicherlich auch ein wenig beängstigend, doch nix Genaues weiß man (noch) nicht. Was ich allerdings genau weiß: Es stört mich, dass im Zusammenhang mit diesem Fall überall vom „schweren Diabetes“ die Rede ist.
Die ursprüngliche Meldung, auf die auch im Grunde alle seit gestern erschienenen Medienberichte zurückgehen, findet man in einer Pressemitteilung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel von gestern. Darin heißt es unter anderem:
Das SARS-CoV-2 Virus kann auch in die so genannten Betazellen in der Bauchspeicheldrüse eindringen und diese schädigen, wie ein Forschungsteam unter Beteiligung des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ nun erstmalig beobachtete. Diese Zellen sind dafür zuständig, das für einen gesunden Stoffwechsel nötige Insulin zu produzieren. Eine SARS-CoV-2-Infektion kann diese Funktion offenbar stören, was in der Folge zu Diabetes führt.
Quelle: Pressemitteilung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vom 2.9.2020
Und etwas weiter im Text findet sich die Formulierung, an der ich mich stoße:
Bei der Arbeit handelt es sich um eine Erstbeschreibung eines Insulinmangel-Diabetes nach einer COVID-19-Erkrankung am Beispiel eines beobachteten Falls. „Ein 19-jähriger Patient kam mit neuentwickeltem schweren Diabetes mit Insulinmangel zu uns in die Klinik. Es zeigte sich, dass er ein paar Wochen vorher offenbar eine Infektion mit SARS-CoV-2 durchgemacht hatte“, berichtet Laudes, der auch Vorstandsmitglied im Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) ist. „So ein Insulinmangel-Diabetes, also Typ-1-Diabetes, wird gewöhnlich durch eine Autoimmunreaktion ausgelöst, bei der das Immunsystem die Betazellen in der Bauchspeicheldrüse fälschlicherweise für fremd hält und angreift. Doch bei diesem Patienten gab es diese Autoimmunreaktion nicht. Wir gehen davon aus, dass das SARS-CoV-2-Virus hier selbst die Betazellen angegriffen hat“, so Laudes weiter.
Quelle: Pressemitteilung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vom 2.9.2020 (meine Hervorhebung)
Warum wird eigentlich im Zusammenhang mit Typ-1-Diabetes so gern von schwerem Diabetes geredet? Hilft das in der Sache irgendjemandem weiter? Okay, man kann natürlich argumentieren, dass ein Typ-1-Diabetes unbehandelt ziemlich schnell zum Tod führt. Dass der Funktionsverlust eines Organs bzw. wichtiger Bereiche eines Organs eine schwerwiegende Erkrankung darstellt. D’accord.
Allerdings beobachte ich, dass diese Bezeichnung als schwerer Diabetes in der breiten Öffentlichkeit zu einer Art Ranking führt: Schwerer Diabetes ist die Sorte, bei der man Insulin spritzen muss (dazu zählt in jedem Fall der Typ-1-Diabetes). Leichter Diabetes ist der, bei dem man nur Tabletten benötigt (das ist in jedem Fall der Typ-2-Diabetes). Und genau diese Einteilung finde ich fatal.
Späte Diagnose mit Folgeerkrankungen
Denn was bitteschön ist an einem Typ-2-Diabetes leicht? Er wird in der Regel deutlich später diagnostiziert als ein Typ-1-Diabetes. Also zu einem Zeitpunkt, an dem infolge eines bunten Potpourris aus Übergewicht, Insulinresistenz, erhöhten Blutfetten und mangelnder Durchblutung häufig bereits Folgeerkrankungen eingetreten sind. Manchmal wird ein Typ-2-Diabetes sogar überhaupt erst nur entdeckt, weil jemand mit Herzinfarkt oder Schlaganfall in die Klinik eingeliefert wurde. Leicht klingt das für mich nicht. Zumal viele Schäden an den Organen, die durch einen zu spät entdeckten Typ-2-Diabetes entstehen, nicht mehr einfach rückgängig zu machen sind. Wer Typ-2-Diabetes als leicht bezeichnet, verharmlost diese komplexe Erkrankung, und das finde ich ziemlich fahrlässig.
Schlechte Gewohnheiten abzulegen ist verdammt schwer
Auch die Therapie eines Typ-2-Diabetes stelle ich mir alles andere als leicht vor. Klar ist es weniger unangenehm, eine Tablette zu schlucken als sich eine Injektion zu verabreichen oder einen Katheter zu setzen. Aber zur Therapie eines Typ-2-Diabetes gehört ja viel mehr als Tablettenschlucken. In der Regel wird nicht weniger von einem erwartet als ein kompletter Wandel des Lebensstils. Ungünstige Gewohnheiten ablegen, mehr Bewegung und gesunde Ernährung antrainieren. Wer schon mal versucht hat, ein paar lästige Kilos abzuspecken, der weiß, wie verdammt schwer das ist!
Gute Insulinempfindlichkeit erleichtert vieles
Dagegen kommt mir das Leben mit Typ-1-Diabetes deutlich leichter vor. Meine Stoffwechselerkrankung wurde erkannt, lange bevor sie meinen anderen Organen schaden konnte. Ich bin – abgesehen von meinem Typ-1-Diabetes – gesund. Mein Körper reagiert gut auf das Insulin, das ich ihm von außen zuführe. Daher muss ich mich beim Essen nicht zwingend einschränken. Ich weiß zwar, dass auch mir eine kohlenhydratreduzierte Ernährung besser bekommt, weil ich auf diese Weise ungesunde Blutzuckerspitzen viel leichter vermeiden kann. Aber wenn ich mein Handwerk verstehe – also Insulindosierung und Spritz-Ess-Abstand perfekt austüftele – und auch noch ein bisschen Glück habe, dann kann ich auch ein hochkalorisches und kohlenhydratlastiges Festessen fantastisch mit Insulin ausgleichen, ohne dass meine Glukosekurve Achterbahn fährt. Bei einer massiven Insulinresistenz, wie sie typisch für einen Typ-2-Diabetes ist, ist ein Festmahl viel schwerer zu managen (wobei die unweigerlichen Blutzuckerkapriolen danach den meisten verborgen bleiben, weil die Krankenkasse ihnen keine Blutzuckerteststreifen finanziert – sie haben ja nur den leichten Diabetes, da braucht man sowas nicht… aber das ist eine andere Baustelle, über die ich mich hier nun nicht weiter auslassen werde).
Manchmal wiegt auch Pillepalle ganz schwer
Ganz abgesehen davon ist es doch auch extrem subjektiv, was Menschen als schwer und was sie als leicht empfinden. Ich persönlich sehe aktuell meinen Typ-1-Diabetes überhaupt nicht als gravierende Einschränkung, fühle mich dagegen durch meine seit Monaten andauernden bescheuerten Nackenverspannungen viel mehr im Alltag beeinträchtigt und psychisch angekratzt – obwohl diese „objektiv“ betrachtet vermutlich eher Pillepalle sind. Auch die Corona-Pandemie zieht mich emotional mehr runter als es „objektiv“ betrachtet zu rechtfertigen wäre, da ich doch keine besondere Angst vor dem Virus habe und in sozial wie wirtschaftlich stabilen Verhältnissen lebe. Und trotzdem komme ich seit Wochen nicht aus einer gewissen depressiven und lustlosen Grundstimmung heraus. Hat mich die Pandemie also leicht oder schwer erwischt? Wie will man das beurteilen?
Schweren Diabetes ganz leicht akzeptieren
Ich finde, man sollte bei der Beschreibung von Krankheiten ganz einfach auf diese subjektiven Bewertungen schwer und leicht verzichten. Die Dinge sind immer so schwer oder leicht, wie man sie nimmt und in sein Leben integriert. Jedenfalls hoffe ich, dass es dem jungen Mann, über den die Kieler Forscher in ihrer Publikation berichten, rasch und leicht gelingt, seinen Typ-1-Diabetes zu akzeptieren, auch wenn er in diesen Tagen in jeder Tageszeitung nachlesen kann, dass er sich einen schweren Diabetes eingefangen hat.
Allgemein kein Anstieg bei den Neudiagnosen
Und wer sich nun ganz abseits von meiner sprachpsychologischen Kritik noch Gedanken über Covid-19 als möglichem Auslöser von Typ-1-Diabetes macht, dem möchte ich zumindest noch eine andere Nachricht mit auf den Weg geben. Wie die Deutsche Diabetes Gesellschaft neulich mitteilte, verzeichnen die Diabetesstatistiken bislang keinen messbaren zusätzlichen Anstieg bei den Typ-1-Diagnosen. Zwischen März und Mai 2020 gab es zwar etwas mehr Fälle als im Vergleichszeitraum des Vorjahrs. Aber der Anstieg unterschied sich nicht vom Anstieg in den vergangenen Jahren. Dabei wäre es zumindest denkbar gewesen, dass der psychische Stress infolge des Lockdowns (Schul- und Kita-Schließungen, Heimunterricht, Kontakbeschränkungen etc.) bei mehr Kindern als sonst die Autoimmunreaktion triggert, die zum Typ-1-Diabetes führt. Na immerhin.
17. März 2021 um 0:23
Den Ausdruck „schwere Diabetes“ findet man auch in der Impfreihenfolge. Dies fand ich nicht leicht verständlich. Deswegen habe ich meinen Diabetolgen schriftlich angefragt, was man eigentlich darunter versteht. Von der Diabetes Beraterin bekam ich schriftlich die Antwort, wenn man regelmäßig Hba1c-Werte um oder über 7,5 mg/dL hat, dann wäre es eine schwere Diabetes.
Da bin ich doch dabei!!!
Aber irgendwie befriedigt mich das nicht.
Ich habe Diabetes typ 2 (da fängt bei mir als Difinitionsfuzzie schon wieder die Krise an) seit ca 20 Jahren fühle ich mich nicht oder nicht immer gut beraten und stoße auf gelegentliche Ungereimtheiten…
Aber ich schreibe das hier, weil ich ein anderes Problem mit Freestale Libre 2 habe – finde aber den Artikel von Dir nicht mehr (Vergleich 1 und 2 – links und rechts).
Ich habe festgestellt, dass mein Lesegerät andere Werte vom Sensor ausgibt als mein Smartphone (das ich eigentlich nur zur Dokumentation nutze und nutzen will). Je höher der Gewebezuckerwert ist desto größer wird die Abweichung.
Im Februar hatte ich laut Lesegerät 5 x leichte Unterzuckerung – beim Smartphone keine einziges mal. Die Spitzenwerte nach dem Frühstück z.B. gehen knapp bis 300mg/dL beim Smartphone und beim Lesegerät nur knapp über 200.
Ich hatte vor mal das zu dokumentieren.
Gruß Michael
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17. März 2021 um 7:13
Moin Michael, suchst du diesen Blogbeitrag? https://suesshappyfit.blog/2019/02/28/sensorvergleich-am-linken-arm-freestyle-libre-1-rechts-freestyle-libre-2-und-dann/ soweit ich weiß, steckt in der App der bessere Algorithmus im Vergleich zum Lesegerät, ich habe da such gelegentlich Unterschiede beobachtet. Aktuell scanne ich allerdings nur mit dem iPhone.
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14. Oktober 2020 um 13:03
Ich glaube, wie du es auch schreibst, dass sich hier sehr vieles im Kopf der jeweiligen Person abspielt. Man muss lernen damit umgehen zu können.
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