Vor einer Weile durfte ich für die Diabetes Zeitung der DDG ein längeres Stück über den Dortmunder Diabetologen Dr. Alexander Risse und die für ein Krankenhaus doch eher ungewöhnliche Social Media-Strategie des dortigen Klinikums schreiben.
Und damit diese Geschichte nicht nur in der Fachwelt kursiert, sondern auch ihr alle sie lesen könnt, poste ich sie jetzt auch hier einmal. Denn schließlich bin ich ein bekennender Risse-Fan und freue mich, wenn seine Videos (noch!) weiter verbreitet werden. Das Interview, das ich für mein Porträt geführt habe, fand als Zoom-Konferenz mit Dr. Risse und dem Leiter der Unternehmenskommunikation am Klinikum Dortmund, Marc Raschke statt. Und es war ebenso aufschlussreich und interessant wie lustig und unterhaltsam.
Dortmund. Wie wird man vom Diabetologen zum YouTube-Influencer? Das weiß niemand besser als Dr. Alexander Risse vom Klinikum Dortmund. Der Chef des Diabeteszentrums hat sich mit ungewöhnlichen Themen wie der Madentherapie bei chronischen Wunden oder dem Leibesinselschwund beim Diabetischen Fußsyndrom eine überraschend große Fangemeinde erobert.
Eine gewöhnliche Handykamera und zwei Lichtquellen sind das einzige technische Equipment, das der Leiter der Unternehmenskommunikation, Marc Raschke, und Dr. Alexander Risse für ihre Drehs benötigen. Als Kulisse dient das Büro des Diabetologen mit einem vollgepackten Bücherregal im Hintergrund und – auch wenn das der Klinikleitung nicht so gut gefällt – gelegentlich auch mal ein Gläschen Wein oder Feierabendbier auf dem Schreibtisch. Das Muster für die Filme ist simpel: Der Kliniksprecher sitzt als Moderator neben dem Arzt und filmt gleichzeitig das Geschehen. Die Videos, mit denen er die Kanäle YouTube, Facebook, Instagram und TikTok bespielt, zeigen einen meist etwas zerzausten Alexander Risse, der über den Rand seiner Halbrand-Lesebrille ins Publikum schaut, diabetologische Fragestellungen erörtert und Fachaufsätze oder Fotoausdrucke in die Kamera hält.

Die Idee für das Format kam Marc Raschke 2016 bei einem Kommunikationskongress in Berlin: „Da saß ein junger Influencer von Anfang 20 auf der Bühne. Der hatte keine Inhalte zu bieten, trat aber trotzdem sehr breitbeinig auf und hatte eine enorme Reichweite“, erinnert er sich. „Und ich dachte mir, wie es wohl wäre, solche Kanäle statt mit Kosmetik und Mode mal mit echtem Content zu bespielen.“ Zurück in Dortmund, machte er sich in verschiedenen Fachabteilungen auf die Suche nach potenziellen Klinik-Influencern für Social Media-Filme. Und einer von ihnen war Alexander Risse.
Der Leiter des Diabeteszentrums besteht bis heute darauf, er sei damals nicht wirklich gefragt worden und immer noch nicht begeistert von der ihm zugedachten Rolle. Doch er spielte mit und sprach bei der Videopremiere im Frühjahr 2017 wunschgemäß über die Madentherapie bei chronischen Wunden. Es folgten etliche weitere Filme, etwa zu der Frage, ob Krankenhäuser generell gefährlich für Menschen mit Diabetes sind oder warum Diabetespatienten mit Polyneuropathie bei einem diabetischen Fußsyndrom besser keinen Vorfußentlastungsschuh tragen sollten. Mit seinen Auftritten avancierte der Diabetologe binnen kurzer Zeit zum Social Media-Star.

So schauten bei den ersten Live-Übertragungen im Schnitt 500 bis 2000 Zuschauer zu, inzwischen kommen einzelne Videos über alle Kanäle verteilt auf bis zu 90.000 Aufrufe. Das dient der Diabetesaufklärung ebenso wie dem Marketing des Klinikums, findet der Kliniksprecher. Denn mit seinen Videos gibt der Diabetologe der Klinik unverkennbar ein Gesicht: „Kein Patient lässt sich von einem Krankenhaus, einem Logo oder einem Gebäude behandeln, sondern von Ärzten und Behandlungsteams, von Menschen“, erklärt Marc Raschke. Ähnliches gelte für die Personalakquise: „Wir haben eine Schule für Gesundheitsberufe, die jedes Jahr 500 Ausbildungsplätze zu besetzen hat. Wenn Bewerber gefragt werden, wie sie auf uns aufmerksam geworden sind, dann nennen sie oft die sozialen Medien und unsere Filme mit Menschen wir Alexander Risse.“ Als Corporate Influencer, der die Marke des Klinikums Dortmund repräsentiert, ziert dessen überlebensgroßes Gesicht sogar ein Baustellenschild, mit dem das Klinikum auf seinen geplanten Neubau hinweist. Die Prominenz bleibt nicht ohne Folgen: Längst wird Alexander Risse auf Kongressen oder im Taxi zum Bahnhof um Selfies, Autogramme und ärztlichen Rat gebeten.

Dabei verlangt der Diabetologe seinem Online-Publikum sowohl fachlich als auch zeitlich einiges ab. Zwischen 25 und 60 Minuten sind seine Videos im Schnitt lang, und bisweilen tauchen bereits in den Titeln Begriffe auf, die man nicht einmal im Pschyrembel findet. So etwa ein Beitrag über Pachysarkologie, in dem es um Vorurteile gegenüber Menschen mit Übergewicht geht. „Die obszessive Beschäftigung mit dem Gewicht gehört zum Arzt wie das Zuspätkommen und das unleserliche Schreiben“, sagt Alexander Risse dazu. Es sind Sätze wie diese, mit denen er bei vielen Menschen Sympathiepunkte sammelt.
Er nimmt aber auch kein Blatt vor den Mund, wenn es die Auswirkungen der Fallpauschalen (DRG) auf die Arbeit in renditeorientierten Krankenhäusern geht: „Da werden Patienten abgefertigt wie im Bordellbetrieb: Du musst den Kunden anlocken, und wenn er da ist, musst du sehen, dass er möglichst schnell fertig wird.“ Auf der Strecke bleibe dabei auch das systematische Denken, an dem man bei Indikationen wie etwa dem diabetischen Fußsyndrom einfach nicht vorbeikommt. In seinen Videos kann er systematische Überlegungen ausführlicher darstellen als es im Krankenhausalltag möglich ist – für Fachkollegen ebenso wie für Patienten. Neben seiner menschlichen Haltung ist es auch diese fachliche Expertise Risses, die Zuschauer in ihren Bann zieht: „Was er erzählt, ist sehr verständlich und sehr dicht“, meint Marc Raschke.
Echte Risse-Fans schrecken deshalb auch nicht vor einem halbstündigen Referat über das Konzept des Leibesinselschwunds im Zusammenhang mit dem diabetischen Fußsyndrom zurück. Das entsprechende Video wurde auf YouTube beinahe 6.000-mal angeschaut. Der Kliniksprecher ergänzt: „In einem anderen Film haben wir sogar einfach sehr ausgiebig einen Teil der Bibliothek im Hintergrund gefilmt und über die Bücher gesprochen. Da sind Strecken, die Zuschauer erst einmal mitmachen müssen, wir muten ihnen da einiges zu. Aber die Leute bleiben, denn sie wollen Risse genau so erleben.“
Auch wenn er mit seinem Status als Influencer hadert, weiß der Diabetologe die Vorzüge der Kommunikation via Social Media mittlerweile zu schätzen. Und er kann sich gut vorstellen, dass auch Diabetespraxen davon profitieren könnten, sich in diesem Format zu versuchen: „Wenn eine Praxis sich so präsentiert, ist das wesentlich konkreter als das meiste, das man sonst auf Praxis-Homepages sieht. Da stehen nämlich normalerweise lauter Leute in weißen Kitteln aufgereiht und grinsen einen an. Irgendwo heißt es auch ‚im Mittelpunkt steht der Mensch’. Damit kann man doch eigentlich nichts anfangen“, sagt Alexander Risse. Ein YouTube-Kanal mit Videos, in denen der Arzt und sein Team über die Diabetestherapie in ihrer Praxis sprechen, sage viel mehr über eine Praxis aus: „Da kann man als Patient gleich sehen: Kann der was? Und passt der zu mir? Ich finde, Praxen sollten das ruhig für sich nutzen.“
Um ihn selbst ist es auf YouTube aktuell zwar etwas ruhiger geworden. Wegen der Corona-Pandemie hat sich der thematische Fokus in der Klinikkommunikation verschoben. Auch Distanzregeln und Kontaktbeschränkungen erschweren die Arbeit im bisherigen Format. Doch die Ideen für weitere Videos sind Alexander Risse noch lange nicht ausgegangen.
Das Klinikum: Mit 25 Kliniken und fünf Instituten ist das Klinikum Dortmund das größte kommunale Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen. Anders als in anderen Kliniken gibt es hier noch immer ein eigenständiges Diabeteszentrum, das auch eine bettenführende Abteilung mit 29 Betten unterhält. 2019 zählte das Klinikum Dortmund in einer Studie des Magazins „Stern“ neben Firmen wie Adidas, Airbus und BMW zu „Deutschlands Unternehmen mit Zukunft“.
Die Personen: Dr. Alexander Risse (Jahrgang 1955) ist Facharzt für Innere Medizin und Angiologie und Diabetologe DDG. Vor seinem Medizinstudium studierte er zunächst Philosophie und Anglistik und betrachtet medizinische Fragestellungen daher nicht allein durch die ärztliche, sondern auch durch die anthropologische Brille. Seit 2007 leitet er das Diabeteszentrum am Klinikum Dortmund. Sein Spezialgebiet sind das diabetische Fußsyndrom und psychosomatische Erkrankungsbilder.
Marc Raschke (Jahrgang 1976) ist PR-Profi. Nach einem Studium der Politikwissenschaft, Neueren und Neuesten Geschichte sowie Angewandten Kulturwissenschaften arbeitete er als Journalist und freiberuflicher PR-Berater. Seit 2013 leitet er die Unternehmenskommunikation des Klinikums Dortmund. Seine in Eigenregie produzierten Videos, die er via YouTube, Facebook, Instagram und TikTok verbreitet, erzielen hohe Reichweiten und haben ihm mittlerweile zig PR-Preise eingebracht.
Pingback: Mein persönlicher Rückblick auf das (Diabetes-)Jahr 2020 | Süß, happy und fit