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Was beim Typ-1-Diabetes zählt: Der neue Konsensus-Report von EASD und ADA

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Aktuell hat man zwar den Eindruck, dass die Wissenschaft sich fast ausschließlich mit der Corona-Pandemie beschäftigt. Doch auch in der Diabetestherapie tut sich was. In diesem Jahr haben die europäischen und amerikanischen Diabetesgesellschaften ein Papier veröffentlicht, das den aktuellen Wissensstand rund um Diagnose und Therapie von Typ-1-Diabetes zusammenfasst. Interessant finde ich vor allem, dass der Report die Perspektive von Menschen mit Diabetes in den Mittelpunkt rückt und auch ihre psychosoziale Gesundheit im Blick hat.

Der Konsensus-Report wurde von 14 internationalen Fachleuten erarbeitet und im Rahmen der EASD-Jahrestagung vorgestellt. Ich habe die entsprechende Sitzung verfolgt und nutze meine freien Tage einfach mal dafür, nach der Diabetes Zeitung nun auch euch darüber zu berichten. Der Report wurde vor allem deshalb mit Spannung erwartet, weil die beiden großen Fachgesellschaften im Jahr 2019 bereits ein vielbeachtetes Konsensusdokument zum Thema Typ-2-Diabetes vorgestellt hatten. Nun liegt auch die finale Fassung eines entsprechenden Reports zum Typ-1-Diabetes vor.

„In den vergangenen Jahren haben die psychosozialen Belastungen, die mit einem Typ-1-Diabetes einhergehen, vermehrt Aufmerksamkeit bekommen“, erklärte Professor Richard Holt von der University of Southampton. „Daher beschreibt der Report auch Strategien, um diese diabetesbezogenen Belastungen zu minimieren.“ Vor allem aber skizziert der Konsensus-Report den Typ-1-Diabetes als eine sehr facettenreiche Erkrankung, die zu jedem Zeitpunkt individuell und aus Patientensicht zu betrachten ist. Das beginnt bereits bei der Diagnose, die nicht an einem einzelnen eindeutigen klinischen Parameter festmachen lässt. „Über 40% aller Menschen, die erst nach dem 30. Geburtstag einen Typ-1-Diabetes entwickeln, erhalten anfangs die Fehldiagnose Typ-2-Diabetes“, betonte Professor Dr. Hans de Vries von der European Medicines Agency, Amsterdam. Der Report enthält ein detailliertes Flussdiagramm, das bei der systematischen Klärung von Verdachtsfällen hilft.

Typ-1-Diabetes: Bitte keine Therapie nach Schema F

Auch für die Behandlungsroutine gibt es kein Schema F. Zwar sollten sich Menschen mit Typ-1-Diabetes mindestens einmal pro Jahr in ihrer Diabeteseinrichtung vorstellen. Doch bei ungünstiger Stoffwechsellage, Therapieanpassungen, psychosozialen Belastungen oder erstmaligem Auftreten von Folgeerkrankungen sowie in besonderen Lebenssituationen (z. B. Schwangerschaft) benötigen sie oft eine engmaschigere Betreuung. „Entscheidend ist, dass Behandler und Patient gemeinsam erreichbare und realistische Ziele vereinbaren und das Therapieregime bei Bedarf anpassen“, sagte Dr. Ruth S. Weinstock von der Upstate Medical University Syracuse NY dazu.

Das erforderliche grundlegende Wissen und therapierelevante Fertigkeiten können sie in strukturierten Diabetesschulungen (DSMES) erwerben – auch zum Umgang mit psychosozialen Belastungen und gesunder Ernährung. „Es gibt nicht ein bestimmtes Ernährungskonzept, das Menschen mit Typ-1-Diabetes generell empfohlen wird“, betonte Amy Hess Fischl von der University of Chicago.

Jetzt ist es amtlich: HbA1c ist nicht mehr das Maß aller Dinge

Zur Glukosemessung hält der Report – wenig überraschend – fest, dass der HbA1c-Wert als alleinige Methode zur Bewertung der Stoffwechsellage nicht mehr geeignet ist. Heute ist die kontinuierliche Glukosemessung (CGM) Goldstandard für Erwachsene mit Typ-1-Diabetes. Der AGP-Report ermöglicht es Menschen mit Diabetes ebenso wie ihren Behandlungsteams, auf einer Seite alle relevanten CGM-Informationen zusammenfasst anzuschauen. Dr. Irl B. Hirsch von der University of Washington erklärte dazu: „Patienten finden vor allem das AGP-Profil selbst hilfreich, das die Glukosevariabilität anzeigt und damit auch genau die Punkte, an denen sie ihre Therapie ggf. anpassen sollten.“

Möglichst physiologische Glukoseverläufe lassen sich in der Insulintherapie am besten mit ICT oder Pumpentherapie erreichen, wobei Insulinanaloga vorzuziehen sind. „Schnelle bzw. ultraschnelle Insulinanaloga führen seltener zu Hypoglykämien als Normalinsulin“, sagte Professor Dr. M. Sue Kirkman von der Universität of North Carolina School of Medicine in Chapel Hill. Eine zusätzliche Überlegenheit ultraschneller Insulinanaloga ist noch nicht belegt. Dafür verbessern sich HbA1c, Time in Range (TiR) und Time below Range (TbR), wenn ICT oder Pumpentherapie durch ein CGM-System ergänzt werden – vor allem, wenn es sich um ein algorithmusgesteuertes Hybrid-AID-System handelt.

Neues Stufenschema für die Einordnung von Hypos

In Bezug auf Hypoglykämien folgt der Report der jüngst neu definierten Definition, wonach man ab einem Glukosewert von <70 mg/dl von einer Hypoglykämie der Stufe 1 spricht, ab einem Wert <54 mg/dl von Stufe 2 und bei einer Hypoglykämie mit Fremdhilfe von Stufe 3. Faktoren wie eine lange Diabetesdauer, Alkoholkonsum, körperliche Aktivität, niedriges Bildungsniveau und eine gestörte Hypoglykämiewahrnehmung können das Risiko erhöhen. „Mit strukturierten Schulungen, CGM- und AID-Systeme lässt sich der HbA1c-Wert senken, auch ohne dass es vermehrt zu Hypoglykämien kommt“, berichtete Professor Dr. Eric Renard vom Montpellier University Hospital.

Besonderes Augenmerk legt der Report auf den Umgang mit psychosozialen Belastungen im Zusammenhang mit Typ-1-Diabetes. So berichten 20 bis 40% der Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes über diabetesassoziierten emotionalen Stress, der sich auch negativ auf Krankheitsbewältigung und Selbstmanagement auswirkt. „Depressionen treten häufiger als in der allgemeinen Bevölkerung auf, bis zu 15% der Menschen mit Typ-1-Diabetes sind betroffen“, verdeutlichte Professor Dr. Frank J. Snoek vom Amsterdam University Medical Center. Entsprechend empfiehlt der Report Behandlungsteams, auch aufmerksam auf die psychische Gesundheit von Menschen mit Diabetes zu achten und bei Bedarf psychologische Hilfe anzubieten.

Psychische Probleme erschweren das Diabetesmanagement

Psychische Probleme sind neben Faktoren wie niedrigem sozioökonomischen Status, hohen HbA1c-Werten, mangelnden Fähigkeiten zum Selbstmanagement, körperlichen Begleiterkrankungen, Infektionen, Alkohol- und Drogenmissbrauch auch Risikofaktoren für das Auftreten diabetischer Ketoazidosen (DKA). „Diese kommen bei Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes in Europa mit einer Häufigkeit von 2,5 Fällen pro 100 Patientenjahren vor“, sagte Professor Dr. Kirsten Nørgaard vom Steno Diabetes Center in Kopenhagen. Das DKA-Risiko verringert sich u. a. durch Schulung und psychosoziale Unterstützung, aber auch telemedizinische Beratungsangebote.

Manchmal darf’s ein bisschen mehr als nur Insulin sein…

Der Konsensus-Report beleuchtet auch Spezialthemen wie die Betazellersatztherapie, die für Menschen mit Diabetes und extrem schwankenden Glukosewerten, häufigen schweren Hypoglykämien sowie bei schweren Nierenschäden eine Perspektive bieten kann, wie Professor Dr. Barbara Ludwig vom Uniklinikum Dresden berichtete. Mit Blick auf jüngste Studien nimmt der Report beim Thema Begleittherapie neben den Substanzen Metformin und Pamlinitid (keine generelle Empfehlung), auch GLP1-Rezeptoragonisten und SGLT2-Hemmer unter die Lupe, die laut dem Endokrinologen Dr. Jeremy Pettus aus San Diego in bestimmten Fällen nicht nur bei Typ-2-, sondern auch bei Typ-1-Diabetes von Vorteil sei können. Außerdem enthält das Konsensuspapier Empfehlungen für spezielle Patientengruppen wie Schwangere, ältere Menschen mit Typ-1-Diabetes, Patienten mit Folgeerkrankungen oder auch bei Krankenhausaufenthalten, die Dr. Tomasz Klupa vom Jagiellonian University Medical College in Krakau präsentierte. Neue und zukünftige Perspektiven, die sich durch die Xenotransplantation von Betazellen, Stammzelltherapie und präventiver Immuntherapie ergeben, stellte Professor Dr. Jay S. Skyler vom Diabetes Research Institute in Miami vor.

Trotz der immensen Fortschritte der vergangenen Jahre gibt es noch viel zu tun, wie die Internistin Dr. Anne L. Peters aus Los Angeles betonte: „Es ist noch ein langer Weg, bis alle unsere Patienten gleichermaßen Zugang zu moderner Diabetestherapie haben und ihre Therapieziele erreichen können.“ Das fürchte ich auch – und hoffe deshalb, dass sich weltweit nicht nur der Zugang zur Diabetestherapie für alle Menschen verbessert, sondern dass sich die neuen Empfehlungen auch schnell in allen Diabetespraxen rumsprechen. Denn eine Behandlung nach Schema F funktioniert nun einmal für viele Menschen mit Diabetes nicht.

Zum Schluss noch die allgemeinen Therapieziele bei Typ-1-Diabetes, auf die sich die internationale Fachwelt nun verständigt hat:

  • Effektive Insulingabe für möglichst hohen Anteil von Glukosewerten im Zielbereich
  • Vermeidung von Hypoglykämien und diabetischen Ketoazidosen
  • Effektives Management kardiovaskulärer Risikofaktoren
  • Minimierung psychosozialer Belastungen
  • Individuell angepasste Stoffwechselziele statt einheitlicher HbA1c-Vorgaben
  • Allgemeine Zielwerte: HbA1c bzw. GMI von <7%, Nüchternblutzucker 80–130 mg/dl, 1–2 Stunden postprandial <180 mg/dl, TiR >70%, TbR <4% unter 70 mg/dl, <1% unter 54 mg/dl, Time above Range <25% über 180 mg/dl, <5% über 250 mg/dl, glykämische Variabilität <36%, Blutdruck <140/90 bei niedrigem und <130/90 bei erhöhtem kardiovaskulärem Risiko

Den vollständigen Report findet man im Fachblatt Diabetologia, online veröffentlicht am 30.9.2021, siehe https://doi.org/10.1007/s00125-021-05568-3

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