Am vergangenen Dienstag wurde Ulrike Thurm, die Vorsitzende der IDAA, mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland – besser bekannt als ‚Bundesverdienstkreuz‘ – ausgezeichnet. Und zwar dafür, dass sie sich seit Jahrzehnten dafür stark macht, dass Menschen mit Typ-1-Diabetes nicht aus Spitzen-, Leistungs- und Freizeitsport ausgeschlossen werden, sondern die erforderliche Unterstützung erhalten.
Meine eigene Typ-1-Diagnose liegt ja noch nicht soooo lange zurück. Als ich 2010 unfreiwilliges Mitglied im Club der Bauchspeicheldrüsengeschädigten wurde, war die Diabetologie schon auf einem ziemlich modernen Stand. Mir trichterte zum Beispiel niemand ein, dass ich zu ganz bestimmten Tageszeiten ganz bestimmte Mengen Kohlenhydrate zu mir nehmen und dafür von meinem Behandlungsteam festgelegte Mengen Insulin spritzen muss. Ich hatte von Anfang an Zugang zu modernen Blutzuckermessgeräten, wenige Jahre später auch zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM). Wenn Leute, die schon viele Jahrzehnte mit Typ-1-Diabetes leben, von den Therapiemöglichkeiten ihrer Anfangszeit erzählen (Glasspritzen und dicke Nadeln, die ausgekocht werden mussten oder Becher mit Sammelurin, die für die wöchentliche Urinzuckermessung auf der Fensterbank herumstanden…), dann überkommt mich immer ein eigenartiger wohliger Schauer: Wie gut, dass ich mich im Hier und Jetzt nicht mit so etwas herumschlagen muss! Und ganz ähnlich geht es mir mit Erzählungen aus der Zeit, in der Menschen mit Typ-1-Diabetes klipp und klar gesagt wurde, dass sie Leistungssport – ach was, eigentlich jede Art von ernstzunehmendem Sport – ganz einfach vergessen können, weil er mit der Stoffwechselerkrankung nicht zu vereinbaren ist. Das sind Storys aus einer Zeit, in der Ulrike Thurm noch nicht auf der Bildfläche erschienen war und die Diabetes- und Sportszene aufgemischt hat.
Da musste auch die wortgewandte und schlagfertige Ulrike kurz schlucken…
Ulrike ist die Gründerin und Vorsitzende der IDAA, dem Verein für sportbegeisterte Typ-Einser, über den ihr hier ja auch schon das eine oder andere Mal lesen durftet. Für ihr jahrzehntelanges ehrenamtliches Engagement im Bereich ‚Sport mit Diabetes‘ ist sie nun also mit von höchster Stelle gewürdigt worden – und bei der feierlichen Zeremonie am 16. August 2022, im Rahmen derer ihr die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote das Bundesverdienstkreuz an die Brust heftete, hat es der wortgewandten und schlagfertigen Ulrike tatsächlich mal vorübergehend die Sprache verschlagen: „Als ich die Senatorin sagen hörte, dass sich die Bundesrepublik Deutschland für meine besonderen Verdienste bedankt, musste ich doch kurz schlucken“, erzählte sie mir.
Die folgenden Bilder stammen vom Fotografen der Berliner Senatskanzlei, Nils Bornemann (ganz herzlichen Dank, dass ich sie hier verwenden darf!). Das Gruppenfoto zeigt (von links nach rechts) Anja Petersen, die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote, Ulrike Thurm, Claudia Schramm, Dr. Katarina Braune und Dr. Andrea Paulus.




Die eigene Diagnose führte zum Thema der Examensarbeit
Und obwohl ich seit Jahren Mitglied der IDAA bin und entsprechend auch die eine oder andere Anekdote aus den Gründungszeiten des Vereins kannte, fragte ich noch einmal gezielt nach, wie es genau zu ihrem unermüdlichen Engagement gekommen war. Das hatte sich seinerzeit tatsächlich eher zufällig ergeben. Mitte der 1980er Jahre war Thurm (Jahrgang 1964) Sportstudentin in Münster und steckte mitten in den Examensvorbereitungen, als sie die Diagnose Typ-1-Diabetes erhielt. „Ich wollte mir eigentlich keine Zeit nehmen, mich mit meiner Erkrankung auseinanderzusetzen“, erinnert sie sich. Ihre Diabetesberaterin Dr. Brigitte Osterbrink gab ihr den segensreichen Rat, sich in ihrer Staatsexamensarbeit mit Diabetes und Sport zu beschäftigen und auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Für ihre Arbeit mit dem Titel ‚Kenntnisstand von Sportlehrern bei der Betreuung von diabetischen Schülern‘ befragte sie Lehrkräfte an Schulen in Nordrhein-Westfalen. Das Interesse der Sportlehrer*innen am Thema war groß, „der Kenntnisstand allerdings war gleich null“, berichtet Thurm.
Jeden Tag eine halbe Stunde bei 80 Watt aufs Ergometer?
Es war die Zeit, in der die DDG in ihren Leitlinien noch empfahl, Menschen mit Typ-1-Diabetes dürften allenfalls als Teil der Therapie Sport treiben – immer zur selben Tageszeit, immer in der gleichen moderaten Intensität und Dauer, aus Sicherheitsgründen nicht allein draußen und schon gar nicht als Mannschafts-, oder gar Leistungssport. „Jeden Tag um dieselbe Uhrzeit eine halbe Stunde bei 80 Watt Leistung auf dem Ergometer strampeln, das war mit dieser Empfehlung möglich“, erklärt Thurm. Doch das war nicht die Art von Sport, die ihr vorschwebte. Schließlich war sie von Kindesbeinen an sportversessen, spielte Fußball, Handball und Tennis, fand Gefallen am Tauchen und am Radsport, trainierte im Rahmen ihres Studiums auch Sportarten wie Schwimmen, Geräteturnen oder rhythmische Sportgymnastik. Mit der Aussicht, dass ihr Diabetes sie sportlich quasi vollständig ausbremsen würde, konnte und wollte sich Thurm nicht abfinden.
Mit guter Schulung ist bei Diabetes alles möglich – auch im Sport
Ihre Examensarbeit erregte Aufsehen im Kultusministerium und in der Düsseldorfer Universitätsklinik, wo der Internist und Diabetologe Professor Dr. Michael Berger die ersten strukturierten Schulungs- und Behandlungsprogramme für Menschen mit Typ-1-Diabetes etabliert hatte. „Professor Berger bot mir direkt einen Job in seiner Klinik an“, erzählt Thurm. Von ihrem Plan, als Sportlehrerin zu arbeiten, hatte sie sich aufgrund ihres Typ-1-Diabetes ohnehin verabschieden müssen. Also heuerte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich-Heine-Universität an und absolvierte parallel dazu noch eine Ausbildung zur Krankenschwester, um sich das erforderliche medizinische Fachwissen anzueignen. In ihrer Arbeit folgte sie dem Leitmotto von Prof. Berger, wonach Menschen mit Diabetes so gut geschult werden sollten, dass sie sich selbst die besten Diabetolog*innen sind.
200 Kilometer nonstop von Mainz nach Düsseldorf geradelt
Immer wieder betont Thurm, dass ihr Werdegang ohne ihren Mentor so nicht möglich gewesen wäre: „Prof. Berger hat mich gleich auf die großen internationalen Kongresse geschickt, auch in Länder, wo es bereits Vereine oder Lauf-Events für Athleten mit Diabetes gab. Weil er fand, dass wir so etwas auch in Deutschland brauchen, hat er mir alle Türen dafür geöffnet.“ Eine spektakuläre Aktion im Jahr 1990, bei der 20 Menschen mit Typ-1-Diabetes von 23 Uhr bis zum Nachmittag des nächsten Tages nonstop von Mainz nach Düsseldorf radelten, markierte die Gründung des deutschen Ablegers der ‚International Diabetic Athletes Association‘ (IDAA). Ohne Stoffwechselprobleme, gesund und munter in Düsseldorf angekommen, wurden die Athletinnen von den staunenden Teilnehmerinnen eines von Prof. Berger organisierten internationalen Diabeteskongresses mit viel Applaus in Empfang genommen – und auf der Stelle gebeten, doch am gemeinsamen Abendessen teilzunehmen, denn die Ärztinnen wollten unbedingt über die praktischen Erfahrungen der Sportler*innen mit Typ-1-Diabetes erfahren, die über 200 km auch als Nachtetappe mühelos bewältigt hatten.
Ehrenempfang bei den Paralympischen Spielen 1992 in Barcelona
Auch in den folgenden Jahren schwangen sich IDAA-Mitglieder gern aufs Rad, um darüber aufzuklären, dass Menschen mit Typ-1-Diabetes mit Wissen, Schulung und Vertrauen in den eigenen Körper auch sportliche Höchstleistungen erbringen können. Ein besonderer Höhepunkt war für Thurm eine Einladung zu den Paralympischen Spielen 1992 in Barcelona: „Wir wurden von der Radsport-Legende Eddy Merckx auf die Strecke geschickt und radelten als Gruppe von IDAA-Mitgliedern von Brüssel nach Barcelona.“ An jeder Zwischenstation hielten die Athlet*innen eine Pressekonferenz ab. Die Gruppe kam ohne medizinische Notfälle oder Stoffwechselturbulenzen in Barcelona an und wurde von spanischen Radsportler*innen und einer Polizeieskorte ins Stadtzentrum geleitet. „Wir zeigten der Welt, was mit Typ-1-Diabetes möglich ist, indem wir es einfach gemacht haben“, erzählt Thurm.
Dank Ulrike gibt es kein Tauchverbot mehr bei insulinbehandeltem Diabetes
Mit ebendieser Herangehensweise brachten die IDAA und ihre Vorsitzende Thurm 1996 mit einer Studie in Papua-Neuguinea auch das Tauchverbot für insulinbehandelte Menschen mit Typ-1-Diabetes zu Fall. Im selben Jahr untersuchte Thurm auf dem Monte Rosa in den Walliser Alpen zusammen mit einem Forschungsteam der Universitätsklinik München, wie zuverlässig Blutzuckermessgeräte bei Kälte und in großer Höhe funktionieren – um zu zeigen, dass Menschen mit Typ-1-Diabetes bei entsprechender Vorbereitung auch gefahrlos Winter- oder Bergsport betreiben können.
Sportlerin, Diabetesberaterin, Buchautorin, Referentin und Coach
Ihr Wissen und ihre Erfahrung teilt Ulrike Thurm gemeinsam mit ihrem Co-Autor Dr. Bernhard Gehr in Büchern wie der Diabetes- und Sportfibel und der CGM- und Insulinpumpenfibel, in Fachbeiträgen und Vorträgen, innerhalb der IDAA sowie in der persönlichen Beratung unzähliger Sportprofis und -amateur*innen mit Typ-1-Diabetes. Aktuell unterstützt sie im Rahmen des Telemedizin-Projekts ‚Challenge-D‚ Menschen mit Typ-1-Diabetes, die Leistungssport betreiben, und ihre betreuenden Diabetesteams. Dabei erhalten die Teilnehmenden ein individuelles Coaching und werden auch mit erfahrenen Leistungssportler*innen der IDAA vernetzt, die aus dem Nähkästchen plaudern und praktische Tipps geben können, die man in einer Diabetespraxis nie bekäme.
Ulrike hat den Boden bereitet für die sportlichen Erfolge so vieler Typ-Einser
Es ist also nicht übertrieben zu sagen: Wir Menschen mit Typ-1-Diabetes haben es ganz entscheidend Ulrike Thurm zu verdanken, dass wir uns begeistert in die verschiedensten Sportarten stürzen können, ohne dass die Fachwelt gleich entsetzt die Hände über den Köpfen zusammenschlägt. Ulrike hat den Boden bereitet, auf dem heute Topathlet*innen wie zum Beispiel Alexander Zverev (Platz 2 der Tennis-Weltrangliste), Anja Renfordt (6-fache Weltmeisterin im Kickboxen), Timur Oruz (Bronze-Olympiasieger im Hockey) oder Matthias Steiner (Olympiasieger im Gewichtheben) sportliche Erfolge erzielen bzw. erzielt haben. Ich für meinen Teil hätte niemals an einem Halbmarathon teilgenommen oder einen Triathlon bestritten, wäre es bei den restriktiven Sportempfehlungen für Menschen mit Typ-1-Diabetes geblieben. Daher sage ich aus vollem Herzen: Vielen Dank, liebe Ulrike, für dein großartiges Engagement und allerherzlichsten Glückwunsch zu der wohlverdienten Auszeichnung!
23. August 2022 um 23:24
Hallo Antje, bin seit 11 Jahren mit 53 von Typ1 beglückt worden.
Trotzdem bin ich als Mountainbiker und Sportler stark unterwegs. Ich lass mich da kaum unterkriegen, auch wenns immer wieder nervt und Energie kostet sich mit dem Typ1 auseinander zusetzen!
Gerade für die Touren hat mich so manche(r) Tipp und Information aus „Diabetes- und Sportfibel“ von Ulrike Thurm und Bernhard Gehr weitergeholfen und unterstützt. Einiges gelernt!
Wichtig ist sich selbst und das persönliche Verhalten des eigenen Körpers unter den unterschiedlichsten Belastungen sowohl konditionell als auch psychisch kennenzulernen und vor allem zu akzeptieren.
So konnte ich in den letzten Jahren auch die Beanspruchungen der Moutainbike (MTB) Touren, ob als Training oder als Tourbelastung unter Kälte, Hitze, Kilometern, Höhenmetern (hm), Tiefenmetern ™ und den diversen täglichen „Zuständen“ hervorragend bewältigen. Dieses Jahr habe wir als MTB Team den Piz Umbrail mit 3033 m erklommen und ich als Typ 1 war dabei.
Umsomehr muss ein DANKE an Ulrike Thurm ausgesprochen werden. Vielen DANK für die herausragenden Tätigkeiten und Errungenschaften!!!
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