Süß, happy und fit

Echte Geschichten aus meinem bewegten Leben mit Typ-1-Diabetes

Innovationen bei Therapie und Technik sind super. Aber auch Sprache muss mit der Zeit gehen!

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Anfang November fand in Berlin erstmals die Veranstaltung ‚Meilensteine der modernen Diabetologie‘ statt. Ich durfte mit einem Vortrag zum Thema #LanguageMatters und der Bedeutung von Sprache in der Diabetestherapie beisteuern.

Bei dem von diabetesDE organisierten Event ging es um die unzähligen Fortschritte auf dem Gebiet der Diabetologie in den vergangenen Jahrzehnten. So erzählte z. B. Dr. Viktor Jörgens einiges über die Anfänge der Diabetestherapie, gefolgt von einem Vortrag von Dr. Andreas Thomas über die technische Evolution der Insulinpumpe. Durch das gesamte Programm zog sich als roter Faden die Erkenntnis, dass es in der Diabetestherapie immer weiter vorangeht und dass Menschen mit Diabetes dank der vielen technischen und therapeutischen Innovationen ihre Erkrankung heute viel eigenständiger selbst behandeln als dies noch vor Jahren bzw. Jahrzehnten der Fall war.

Meilensteine in der modernen Diabetestherapie

Es gibt Meilensteine der Diabetologie, die einem in diesem Zusammenhang gleich ohne Umschweife einfallen: die Entdeckung des Insulins natürlich samt aller folgenden Weiterentwicklungen bei den Insulinen. Aber auch technische Neuerungen wie die Blutzuckerselbstmessung, die kontinuierliche Insulinabgabe (CSII) mit Insulinpumpen und die kontinuierliche Glukosemessung (CGM) mithilfe von Sensoren. Und natürlich der neueste ‚heiße Scheiß‘, die automatisierte Insulindosierung (AID) durch das Koppeln von CGM-Systemen mit Insulinpumpen mithilfe eines Algorithmus. Über diese und weitere Meilensteine wurde bei einem Event am 5. November 2023 in Berlin gesprochen, das diabetesDE in diesem Jahr erstmals veranstaltet hat. (Übrigens kann man sich die wissenschaftlichen Vorträge hier nochmal ansehen – die Vorträge im Foyer, wo auch ich gesprochen habe, wurden leider nicht aufgezeichnet)

Feste Spritz- und Esspläne sind längst passé

Alle diese Neuerungen halfen und helfen Menschen mit Diabetes dabei, ein unabhängiges und möglichst wenig eingeschränktes Leben zu führen. Vorbei sind die Zeiten, dass man für die simple Messung des Blutzuckerwerts einen Termin im Krankenhaus oder in der Arztpraxis vereinbaren musste. Ebenso passé sind von Ärzt*innen festgelegte Spritz- und Esspläne, in denen z. B. stand, dass man morgens um 7:30 Uhr (und keinesfalls früher oder später) ein Frühstück mit 5KE (und keinesfalls mehr oder weniger), um 10:30 eine Zwischenmahlzeit mit 2KE, um 13:30 ein Mittagessen mit 5KE, um 16:30 eine weitere Zwischenmahlzeit mit 2KE und um 19:30 ein Abendessen mit abermals 5KE zu sich nehmen musste – ob man nun Hunger oder Appetit hat oder nicht.

Wir treffen jeden Tag unzählige Therapieentscheidungen

Heute ist es für uns selbstverständlich, dass wir unsere Mahlzeiten so zu uns nehmen, wie es uns am besten passt und dass wir die Insulindosierung dafür selbst anpassen bzw. von einem AID-System anpassen lassen. Wir treffen jeden Tag eine große Zahl von Therapieentscheidungen selbst, ohne dass wir dafür permanent in Kontakt mit unserem Diabetesteam sind. Das alles gelingt nur deshalb (mehr oder weniger gut), weil wir in Schulungen gelernt haben, eigenverantwortlich mit unserem Diabetes umzugehen. Und weil wir uns in unseren Diabetespraxen, im Internet, in Zeitschriften oder in der Community über Neuigkeiten in der Diabetestherapie informieren. Über alle diese Dinge wurde bei dem Berliner Event ausführlich berichtet.

Sprache muss Schritt halten mit den Fortschritten in der Therapie

In meinem Vortrag war es meine Aufgabe, auf einen weiteren Meilenstein in der modernen Diabetologie hinzuweisen, der den meisten von uns vermutlich nicht als erstes einfällt: die Weiterentwicklung der Sprache. Denn wenn Menschen mit Diabetes zunehmend selbst Verantwortung für ihre Therapie übernehmen und zentrale Entscheidungen im Alltag selbst treffen, dann muss sich das auch in der Sprache rund um den Diabetes widerspiegeln. Die Art, wie mit und über Menschen mit Diabetes gesprochen wird, muss Schritt halten mit all den anderen Fortschritten in der Diabetologie.

Antje bei ihrem Vortrag im Foyer bei ‚Meilensteine der modernen Diabetologie‘ am 5.11.2023 in Berlin (Foto: Christoph Thiel)

Begriff der ‚Compliance‘ zeichnet kein zeitgemäßes Bild

Doch der Realitäts-Check zeigt: Da gibt es noch viel zu tun! Noch immer werden Menschen mit Diabetes sprachlich häufig als passive Empfänger medizinischer Behandlung dargestellt, die sich nach ärztlichen Anweisungen zu richten haben und dafür bewertet/benotet werden. Wie oft stolpere ich in Fachbeiträgen über den Begriff ‚Compliance‘ (oder wahlweise ‚Adhärenz‘ bzw. ‚Therapietreue‘, das bedeutet letztlich alles dasselbe)! Dahinter steckt die Vorstellung, dass das Diabetesteam die Therapieziele festlegt, und Menschen mit Diabetes sich daran halten müssen. Wer sich nicht an ärztliche Anweisungen hält, gilt als ’nicht compliant‘ oder sogar als ‚Therapieverweigerer‘. Dabei kann man in der aktuellen Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) zum Typ-2-Diabetes ebenso wie in der ganz frisch aktualisierten S3-Leitlinie zur Therapie des Typ-1-Diabetes (beide Leitlinien findet man u. a. hier) doch längst nachlesen, dass die gemeinsame Entscheidungsfindung (partizipative Entscheidungsfindung, PEF) der neue Goldstandard ist. Wenn man sich dann noch vor Augen führt, wie viele Therapieentscheidungen Menschen mit Diabetes tagtäglich selbst treffen – und ja auch treffen sollen! – zeichnet das Konzept der ‚Compliance‘ definitiv kein zeitgemäßes Bild der Beziehung zwischen Patient*innen und ihren Behandlungsteams!

Positionspapier ist ein erster Meilenstein für sensible Sprache

Doch zum Glück gibt es auch auf dem Gebiet der Sprache immerhin einen kleinen Meilenstein zu verzeichnen: die Veröffentlichung des Positionspapiers ‚Sprache und Diabetes #LanguageMatters‘, das die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), diabetesDE und die #dedoc°-Community 2022 gemeinsam herausgegeben haben. Ich bin nach wie vor stolz und dankbar, dass ich daran aktiv mitarbeiten durfte. Natürlich ist Papier geduldig, und die bloße Veröffentlichung eines solchen Positionspapiers sagt noch nichts über die allgemeine Akzeptanz von empathischer und sensibler Kommunikation aus. Doch sie ist ein wichtiger Schritt, der zeigt, dass Fachgesellschaft, Dachorganisation und Patient*innen-Community in diesem Punkt an einem Strang ziehen. Wir alle wollen gemeinsam daran arbeiten, dass unsere Sprache mit der Entwicklung in allen anderen Bereichen des Fachgebiets Schritt hält und das widerspiegelt, was in der Diabetologie längst akzeptierter Standard ist.

Insofern war mein Vortrag über #LanguageMatters zwischen all den anderen Referaten, in denen es um therapeutische und technische Meilensteine der modernen Diabetologie ging, ganz sicher nicht fehl am Platze. 🙂

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