Bei der Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) Ende Mai 2014 in Berlin drehte sich ein einer Sitzung alles um die Frage, warum so viele Patienten gern Apps, Online-Foren und Arztbewertungsportale nutzen.
Für uns Diabetiker ist es längst selbstverständlich, Online-Foren, Facebook-Gruppen oder Apps zu nutzen, um uns den Alltag mit unserem nervigen Begleiter zu erleichtern oder uns miteinander auszutauschen. Ärzte gehören eher zur Spezies der „digital immigrants“ und tun sich gern ein wenig schwer mit der digitalen Vernetzung. Bei der Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) Ende Mai 2014 in Berlin, die ich zur Berichterstattung für die Medical Tribune besuchte, drehte sich ein einer Sitzung alles um die Frage, warum so viele Patienten gern Apps, Online-Foren und Arztbewertungsportale nutzen – und wie man diese Vorlieben für Prävention und Schulung nutzen können.
Wir sind längst im Web 3.0 angelangt
Zu Beginn des Internetzeitalters war das Worldwide Web eine bloße Informationsquelle. Mit Beginn der Ära des Web 2.0 lautete das Motto dann: Alle machen mit! Jeder Nutzer kann seither an der Online-Enzyklopädie Wikipedia mitbasteln oder über ein eigenes Blog seine Gedanken einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Inzwischen aber sind wir längst im Web 3.0 angelangt, meinte Dr. Thomas Kleinoeder von der Internetagentur KWHC aus Uelzen. „Und das bedeutet, dass sich Menschen über Internet- und Smartphone-Anwendungen dynamisch und quasi grenzenlos vernetzen können.“ Die neuen technischen Möglichkeiten werden auch im Gesundheitsmarkt bereits heute intensiv genutzt, wie eine aktuelle deutschlandweite Online-Studie des Beratungsunternehmens healthcare42 zum Nutzungsverhalten von Patienten an über 3.000 Teilnehmern zeigt.
Mehrheit der Gesundheits-Surfer sind chronisch Kranke
Demnach reicht den meisten Befragten (59 Prozent) der einfache Online-Austausch mit Gleichgesinnten, die an ähnlichen Erkrankungen leiden. Der Studie zufolge werteten 51 Prozent auch einen „digitalen Therapiebegleiter“ als hilfreich, der sich an ihre individuelle Situation anpassen lässt. Die Mehrheit der Gesundheits-Surfer sind chronisch Kranke (41 Prozent), gefolgt von Menschen mit akuten Beschwerden (22 Prozent) und gesunden Interessierten (20 Prozent). Diabetes und Übergewicht wurden von gut 17 Prozent der Befragten als Grund für ihre Recherchen angegeben – vor diesem Erkrankungskomplex lagen nur die beiden Themenfelder „Probleme mit dem Bewegungsapparat“ sowie „Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen“. Gut 60 Prozent der Befragungsteilnehmer waren Frauen, knapp 40 Prozent waren Männer. Das Durchschnittsalter lag bei 59 Jahren.
Der typische Silver Surfer ist längst digital vernetzt
„Die Silver Surfer holen also auf“, sagte Dr. Kleinoeder, „ob junger Typ-1-Diabetiker oder älterer Typ-2-Diabetiker, spielt bei der Betrachtung von Diabetes in Social Media deshalb gar keine so große Rolle.“ Als Beispiel für die Online-Vernetzung gerade älterer Menschen nannte Dr. Kleinoeder das Portal Feierabend.de, das sich selbst als „Webtreff für die besten Jahre“ bezeichnet und „Online-Sofortkontakt zu über 175.000 Gleichgesinnten“ verspricht. „Dieses Portal erinnert an Facebook, und dort tummeln sich sehr aktive Nutzer“, sagte Dr. Kleinoeder. „Unser fiktiver Patient Herbert F. diskutiert also auf Feierabend.de mit anderen Typ-2-Diabetikern. Außerdem schaut er sich auf Youtube Videos an, die zeigen, wie man sich korrekt Insulin injiziert. Seinen Blutzucker und andere Diabetesdaten dokumentiert er in der Smartphone-App mySugr, bei den Pharmaherstellern recherchiert er, welche neuen Medikamente es gibt, und über seinen Arzt informiert er sich im Vorfeld bei Jameda oder einem anderen Arztbewertungs-Portal.“
Menschen sind emotional immer noch steinzeitlich programmiert
Für die wachsende Internet-, Social Media und Smartphone-Affinität der Menschen gibt es ganz einfache Erklärungen aus der Kommunikationsforschung. Der PR-Fachmann Ralph Brodel, der eine Agentur für Bewegtbildkommunikation in Bochum leitet, meinte hierzu: „Wir Menschen sind emotional nach wie vor ganz steinzeitlich programmiert.“ So war der ständige Informationsaustausch mit anderen Menschen bereits für Höhlenbewohner immens wichtig, was möglicherweise das Mitteilungsbedürfnis mancher Zeitgenossen in den sozialen Medien erklärt: „Früher erzählte man dem Nachbarn: ‚Hör mal, ich habe da vorn die Spuren eines Säbelzahntigers gesehen, sogar schon drei Tage hintereinander immer wieder neue’. Heute posten Menschen ihren aktuellen Blutzucker bei Facebook“, sagte Brodel.
Bewegtbilder erfüllen steinzeitliche Bedürfnisse
Ebenso archaisch sind Menschen bei der Informationsverarbeitung gestrickt. „Sobald sich etwas bewegt, schaut man hin und liefert dem Gehirn Sinnesreize, die es verarbeiten muss“, sagte Brodel. Lesen hingegen ist eine vergleichsweise junge Kulturtechnik. „Sehen ist die ältere und damit intuitivere Form der Informationsaufnahme.“ Zudem haben Menschen dank ihrer Spiegelneuronen die Fähigkeit, sich in einen Artgenossen hineinzuversetzen und seine Gefühle nachzuempfinden, wenn sie ihn ansehen. „Menschen wollen Menschen sehen! Das Bewegtbild erfüllt unsere steinzeitlichen Bedürfnisse, denn es spricht uns mit Bild, Bewegung und Ton an, es versinnlicht Gegenstände und Handlungen, macht Prozesse nachvollziehbar und ergänzt Kognition mit Emotion“, erläuterte Brodel.
Wer Menschen begeistern will, muss sie emotional ansprechen
Auf diese Weise erklären sich auch die Präferenzen von Menschen bei der Informationsbeschaffung: „Laut Institut Allensbach fragen Menschen zuallererst ihre Freunde und Bekannten, wenn sie Informationen benötigen. An zweiter Stelle steht das Fernsehen als Informationsquelle.“ Lesen und Fachpresse hingegen liegen weit abgeschlagen auf den hinteren Rängen möglicher Informationsquellen. „Medien-, Film- und Werbeindustrie machen sich diese Erkenntnisse längst zunutze“, betonte Brodel, „und wer Menschen für Prävention begeistern will, sollte dies ebenfalls tun.“