Kohlenhydrate richtig zu schätzen ist vermutlich die größte Fehlerquelle, die es im Umgang mit Diabetes so gibt. Und deshalb kommen findige Startups auch immer wieder mit neuen Apps und Gadgets auf den Markt, die einem das lästige Schätzen, Abwiegen und Rechnen ersparen sollen. Beim ATTD-Kongress Anfang dieses Jahres in Berlin habe ich hierzu eine Vortragssitzung besucht – und dabei leider keine wirklich ausgereiften Lösungen gefunden.
Ein saftiges Steak mit Stampfkartoffeln, eine verlockende Lasagne oder ein unwiderstehlicher Cupcake – es gibt einfach jede Menge Leckereien, die für Menschen mit Diabetes zur komplexen Textaufgabe werden. Dummerweise ist es nicht immer leicht, die exakten Zutaten und Nährstoffzusammensetzung einer Mahlzeit herauszufinden. Klar, dass es unter diesen Umständen zu Fehlern beim Schätzen der Kohlenhydrate und damit auch bei der Insulindosierung kommt. In einer Sitzung mit dem Titel „Nutrition and Technology“ beim diesjährigen ATTD-Kongress berichtete Prof. Ram Weiss von der Hebrew University of Jerusalem: „Wenn Patienten im Alltag die Kohlenhydratmenge schätzen, dann verschätzen sie sich bei industriell gefertigten Lebensmitteln um bis zu 30 Prozent und bei selbst zubereiteten Mahlzeiten sogar um bis zu 50 Prozent.“
Jede Lebensmitteldatenbank gibt andere Antworten
Darüber hinaus können verschiedene Lebensmitteldatenbanken manchmal ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage geben, wie viele Gramm Kohlenhydrate ein bestimmtes Nahrungsmittel enthält. Ihr könnt das einmal ausprobieren, indem ihr die Nährwertangaben eines Rezepts aus einer Zeitschrift mit einer beliebigen Datenbank im Internet (z. B. Nährwertrechner oder Issgesund abgleicht. Oder indem ihr einfach mal schaut, wie viele unterschiedliche Angaben ihr zum Kohlenhydratanteil findet, wenn ihr als Stichwort „Pfannkuchen“ eingebt. Prof. Weiss hat also vermutlich recht, wenn er sagt: „Was Patienten wollen, sind also Instrumente, die sie im Alltag unterstützen, damit sie weniger selbst über diese Fragen nachdenken müssen.“
Nährstoffanalyse per Bildvergleich
Die Entwicklung derartiger zumeist digitaler Helfer beschäftigt eine ganze Startup-Industrie, wie der anschließende Vortrag von Michal Gillon-Keren zeigte. Die israelische Forscherin stellte eine ganze Reihe von Smartphone-Apps und Wearables mit Sensoren vor, die beim Erkennen der Nahrungszusammensetzung helfen sollen. Da wären zum Beispiel Apps wie Go-Carb, über die ich schon 2015 einmal berichtet habe. Diese App gleicht Fotos von Mahlzeiten mit den Fotos in einer Referenz-Datenbank ab und leitet daraus die Nährstoffzusammensetzung ab. „Probleme hierbei sind allerdings die schlechte Bildqualität vieler Aufnahmen und unklare Portionsgrößen“, wandte Gillon-Keren ein. Und ich möchte – wie schon in 2015 – ergänzen, dass es bei Aufläufen oder Eintöpfen schlicht sehr schwierig ist, einzelne Zutaten und damit die Nährstoffzusammensetzung zu erkennen.
Sensoren, die beim Essen Bewegungsmuster studieren
Um die Nahrungsmenge und -zusammensetzung von Mahlzeiten automatisiert zu bestimmen, wollen viele Tüftler daher lieber andere Sensoren nutzen. Beispielsweise mikroelektromechanische Systeme (MEMS), Kreiselinstrumente (Gyroskope) oder Beschleunigungssensoren, die in einem Wearable am Handgelenk getragen werden. Sie sollen aus den Bewegungsabläufen der Hand auf die Menge der zugeführten Nahrung schließen können: Wie oft wird die Hand zum Mund geführt? Bewegt die Hand einen Löffel oder eher ein Stück Obst, aus dem kräftig abgebissen wird? Auch hierzu könnt ihr gern eine praktische Übung machen: Beobachtet einmal die Bewegungsabläufe eurer Hand, wenn sie einen Löffel mit Suppe zum Mund führt und vergleicht sie mit dem Griff in die Chipstüte. Ein schlauer Sensor kann dabei sicher typische Muster erkennen und in eine App übertragen. Doch Sensoren sind halt nicht allwissend. Von meinem Fitbit-Aktivitätstracker etwa weiß ich, dass ich ihn auch zum Schrittezählen bringen kann, wenn ich unter der Dusche mit dem Bimsstein Hornhaut von meinen Füßen schleife.

Bildquelle: Hapifork
Ein Hörgerät, das Kau- und Schluckgeräusche analysiert
Das Publikum beim ATTD-Kongress war ebenfalls… nun ja… ein wenig skeptisch. Auf den Prototyp einer ‚smarten Gabel’, die Gillon-Keren als nächstes vorstellte, reagierten dann viele mit ungläubigem Kopfschütteln. Die smarte Gabel verbirgt in ihrem Griff eingebaute Sensoren, die Feedback zum Essverhalten geben sollen. Das Konzept hat es zumindest über die Crowdfunding-Phase hinausgeschafft und ist nun kommerziell erhältlich.
Ebenso schräg mutet ein akustisches Hilfsmittel an, das ähnlich wie ein Hörgerät am Brillenbügel getragen wird, Kau- und Schluckgeräusche aufzeichnet und aus diesen akustischen Signalen auf die Art der Nahrungszusammensetzung schließt. Ich kann mir natürlich gut vorstellen, dass eine rohe Karotte beim Abbeißen und anschließenden Zerkauen ein anderes Geräuschprofil erzeugt als eine Schüssel Porridge. Doch mal ehrlich: Wäre das wirklich ein alltagstaugliches Hilfsmittel? Zumindest mir als Diabetikerin, die für einen ausreichenden Spritz-Ess-Abstand Nährwertangaben im Idealfall VOR dem Essen wissen muss, wäre damit nicht wirklich geholfen.
Ein Halsband, aus dem ein Gewirr bunter Kabel sprießt
Zum Glück konnte sich auch Michal Gillon-Keren das Lachen nicht immer verkneifen. Zum Beispiel als sie den piezoelektrischen Sensor vorstellte, der unterhalb des Kiefers getragen wird und mechanische Veränderungen beim Kauen und Schlucken in elektrische Signale umwandelt. Allerdings muss der Sensor in ständigem Kontakt mit der Haut sein. Deshalb muss der Anwender ein ca. zehn Zentimeter breites Halsband tragen, aus dem vorn ein Gewirr an bunten Kabeln sprießt, die dann zum signalverarbeitenden Empfangsgerät führen. Wenn ihr mich fragt, ist das ein Aufzug, der im Alltag mehr Fragen aufwirft als Antworten bietet.
Sensoren sind die Zukunft – aber aktuell müssen wir noch zählen und schätzen
So gab denn auch die Referentin zu: „Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass Leute diese Sensoren im Alltag auch wirklich würden tragen wollen.“ Doch auch wenn viele Prototypen heute den Praxistest noch nicht bestehen, zeigte sich Gillon-Keren überzeugt, dass Sensoren künftig bei der Analyse der Nahrungszusammensetzung eine große Rolle spielen werden. Und deshalb: Sorry Folks! Bis die diversen sensorgestützten Alltagshelfer einsatzbereit sind, führt allerdings wohl kein Weg daran vorbei: Menschen mit Diabetes müssen lernen, wie sich ihre Nahrung zusammensetzt und trainieren, die entsprechenden Nährstoffmengen im Alltag möglichst exakt einzuschätzen.