Vielleicht habt ihr es schon gesehen: Im aktuellen Diabetes Journal ist eine Doppelseite mit einem Interview aus meiner Feder zu lesen. Dafür habe ich mit Sandra Neumann (42) aus Berlin gesprochen, die den Diabetes quasi zu ihrem Beruf gemacht hat. In ihrer Praxis „Zucker im Kopf“ berät und behandelt sie Menschen mit Typ-1-Diabetes und ihre Angehörigen.
Ich kenne Sandra nun schon eine ganze Weile. Sie war eine der Mütter, die sich schon bei einem Workshop zum Thema Diabetes Typ F im Rahmen des T1Day 2016 in meine Liste eingetragen hatte. Damals hatte ich gerade damit begonnen, Familien und Paare zu suchen, die ich für mein Buch In guten wie in schlechten Werten interviewen könnte. Und tatsächlich machte ich mich später im Jahr 2016 auf nach Berlin, um Sandra und ihre beiden Kinder zu besuchen.
Als ich mit Sandra, ihrer Tochter Emily und ihrem Sohn Tobias sprach, war Emily noch das einzige Familienmitglied mit Typ-1-Diabetes. Wir sprachen darüber, wie sich die Diagnose auf die Beziehung von Sandra und dem Vater der beiden Kinder auswirkte, warum die Pudeldame Lilly zum Diabetikerwarnhund ausgebildet wird, wie Emily in der Schule mit ihrem Typ-1-Diabetes zurechtkam und wie ihr jüngerer Bruder Tobias damit umging, dass er seine Bedürfnisse wegen Emilys Diabetes manchmal hintenanstellen musste. Ich machte mir viele Notizen und noch mehr Gedanken, wie bei den 14 anderen Familien und Paaren auch, die ich für mein Buch interviewte.
Beim zweiten Kind fühlt es sich routinierter an. Aber nicht leichter.
Im Frühjahr 2017 waren alle Portraits der 15 Familien und Paare fertig geschrieben. Ich nahm mit allen Kontakt auf, um die Texte noch einmal abzustimmen. Schließlich hatten meine Interviewpartnerinnen und -partner mir sehr persönliche Dinge anvertraut. Da wollte ich absolut sichergehen, dass sie sich in den Portraits wiederfinden und sich mit der Veröffentlichung wohlfühlen. Der Abstimmungsprozess mit allen Familien und Paaren verlief problemlos. Nur Sandra meldete sich ausführlicher bei mir: „Können wir nochmal telefonieren? In der Zwischenzeit hat auch Tobias die Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten!“ Das änderte natürlich alles. Wir telefonierten. Ich sprach mit Sandra und mit ihren beiden Kindern. Ich schrieb das Portrait noch einmal neu. Und im Mai 2018 erschien dann endlich mein fertiges Buch, in dem ich auch die Geschichte von Sandra Neumann und ihren beiden Kindern erzähle. Ihr Kapitel heißt „Beim zweiten Kind fühlt es sich routinierter an. Aber nicht leichter.“
„Zucker im Kopf“ besser in den Alltag integrieren
Sandra ist mittlerweile eine echte Expertin für Typ-1-Diabetes – und natürlich auch für Typ F, sprich den Part der Angehörigen. Sie weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn sich im Alltag alles um Kohlenhydrate, Insulin, Blutzuckermessungen und Angst vor Über- oder Unterzuckerungen dreht. Nach Emilys Diagnose saß sie im Büro ständig auf heißen Kohlen, weil sie nicht wusste, ob in der Kita alles gut läuft. Sie hatte schlaflose Nächte, ständig Angst, fühlte sich immer auf Abruf bereit, schaffte auf der Arbeit und im Alltag nur noch halb so viel wie zuvor. Inzwischen hat sie jede Menge Erfahrung damit, wie man diesen ganzen Zucker im Kopf besser in den Alltag integrieren kann. Als Heilpraktikerin mit diversen Weiterbildungen zur psychotherapeutischen Beratung möchte sie nun ein Angebot mit einem Fokus auf Menschen mit „Diabetes Typ F“ aufbauen und auf diese Weise eine Lücke schließen. Die Mitarbeit an meinem Buch war für sie ein wichtiger Impuls hierzu.
Schuldgefühle, Hilflosigkeit und Verunsicherung sind die häufigsten Probleme
In ihrer Praxis, die folgerichtig den Namen Zucker im Kopf trägt, unterstützt sie Menschen mit Typ-1-Diabetes und ihre Angehörigen, die mentale Begleitung und Stärkung benötigen. Etwa wenn es wegen des Diabetes zum Streit mit dem betroffenen Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen kommt. Wenn man vor lauter Sorgen oder Angst vor der Zukunft nicht mehr schlafen kann. Wenn das ständige Kümmern um stabile Blutzuckerwerte die letzte Kraft und Energie rauben, und man einfach nicht mehr weiter weiß. „Schuldgefühle, Hilflosigkeit und Verunsicherung gehören zu den am meisten beschriebenen Problemen in meiner Praxis“, sagt Sandra. Und was dagegen am besten hilft, ist Zuhören und Reden.
Vor allem Mütter glauben, immer alles perfekt hinkriegen zu müssen
Sie versteht ihr Angebot keinesfalls als Ersatz für eine klassische Diabetesschulung, sondern als Ergänzung zu diesen unmverzichtbaren, aber doch eher fachlich gehaltenen Anleitungen. „Es klingt vielleicht banal, aber es geht in meiner Praxis vor allem um Zuhören und Reden. Gemeinsam überlegen wir, welche Schritte man gehen kann, damit der Diabetes nicht die Kontrolle über das eigene Leben übernimmt. Und selbst wenn er sie schon übernommen hat – es gibt viele Wege, das Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen“, meint Sandra. Sie hat beobachtet, dass insbesondere viele Mütter glauben, dass sie alles perfekt hinkriegen müssen – und die Fehler bei sich suchen, wenn die Glukosewerte trotz moderner Technik aus der Reihe tanzen oder das Kind sich verweigert. „Typisch Frau irgendwie. Aber Menschen sind halt keine Maschinen. Der Diabetes verlangt wirklich sehr viel von uns. Und wenn etwas schiefläuft, liegt das auch oft am Umfeld“, sagt Sandra. Es kann für die Angehörigen nämlich sehr belastend sein, wenn Menschen aus dem persönlichen Umfeld sie ständig mit gefährlichem Halbwissen zum Thema Diabetes konfrontieren. Es verletzt und kostet Kraft, wenn man ständig gegen Vorurteile kämpfen, trösten oder sich rechtfertigen muss.
Einzel-, Paar- und Familiensitzungen vor Ort oder als Onlineberatung
Ich finde es toll, dass Sandra diesen Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hat und auf diese Weise andere Betroffene an ihrem Wissen und ihrer Erfahrung teilhaben lässt. Wer sich für eine Beratung oder Behandlung bei ihr interessiert, kann über ihre Homepage www.praxis-zucker-im-kopf.de Kontakt mit ihr aufnehmen. Sie bietet Einzel-, Paar- oder Familiensitzungen an – entweder vor Ort in ihrer Praxis oder per Videochat/Onlineberatung. Leider übernimmt die gesetzliche Krankenkasse die Kosten für die Behandlung nicht, bei privaten Krankenversicherungen oder Zusatzversicherungen lohnt es sich nachzufragen. Zweimal im Monat bietet sie eine kostenlose Selbsthilfegruppe für Angehörige an, außerdem würde sie gern mit Berliner Kliniken kooperieren, um bereits auf der Station für die Eltern neu diagnostizierter Kinder Gespräche anbieten zu können.