Menschen mit Diabetischem Fußsyndrom gelten bei Ärztinnen und Ärzten als schwieriges Klientel: Sie begeben sich viel zu spät in Behandlung, halten sich nicht an ärztliche Ratschläge, tragen zu enge Schuhe und belasten ihre lädierten Füße. Wer mit dieser Erkrankung nicht vertraut ist, fragt sich schnell: Warum tun sie das? Beim diesjährigen Wundkongress in Bremen durfte ich zum ersten Mal einen Vortrag des Dortmunder Diabetologen Dr. Alexander Risse hören, der hierfür einige plausible Erklärungen gab.
„Wenn Sie beim Anblick eines diabetischen Fußes entsetzt gucken und sich fragen, wie in aller Welt dieser Mensch es soweit kommen lassen konnte – dann zeigt das, dass Sie keine Erfahrung im Umgang mit diesen Menschen haben.“ Mit diesen Worten begann am 8. Mai 2019 beim Bremer Wundkongress der Vortrag von Dr. Alexander Risse, Leiter des Diabeteszentrums im Klinikum Dortmund. Und schwupp fühlte ich mich ebenfalls angesprochen, obwohl sich sein Vortrag natürlich in erster Linie an Ärztinnen und Ärzte sowie Fachkräfte auf dem Gebiet der Wundbehandlung richtete. Denn ich sehe in meiner Arbeit als Redakteurin für eine chirurgische Fachzeitschrift auch regelmäßig Bilder von Füßen mit chronischen Wunden, eines fieser als das andere. Und auch ich frage mich dann immer wieder: Warum geht man nicht zum Arzt, bevor der Fuß so schlimm aussieht, das Fleisch fault, der Knochen offenliegt und die Zehen absterben? Das ist doch nicht normal, oder? (Ich erspare euch hier die einschlägigen Fotos, obwohl ich in meinem chirurgischen Archiv eine Menge davon gespeichert habe. Wer sich einmal gruseln möchte, gibt bei der Suchmaschine seines Vertrauens einfach mal „diabetisches Fußsyndrom“ in die Bildersuche ein, auch dort gibt es einen unerschöpflichen Fundus an Fotos.)
Wachsende Youtube-Fangemeinde für den schrullig-zerstreuten Wissenschaftler
Für Dr. Risse allerdings ist der Umgang mit solchen Menschen Alltag. Wer ihn noch nicht kennt: Der Internist, Angiologe und Diabetologe hat vor seinem Medizinstudium zunächst Philosophie und Anglistik studiert und betrachtet medizinische Fragestellungen aus diesem Grund nicht allein durch die ärztliche, sondern auch durch die anthropologische Brille. Mit seinen Erklärungen zu verschiedenen diabetologischen Fragestellungen hat er es mittlerweile zum Youtube-Influencer gebracht, dessen ständig wachsende Fangemeinde ihn zum einen für sein schrullig-zerstreutes Auftreten, zum anderen aber für seinen ‚etwas anderen‘ Blick auf die typischen Phänomene seiner Zunft schätzt. Mein Tipp: Schaut ihn euch mal an! Ich habe normalerweise wenig Geduld für Video-Content, doch bei Dr. Risse ist das anders.
Ohne das Alarmsignal Schmerz fällt die Verhaltensänderung schwer
Eines der Phänomene, mit denen Dr. Risse sich intensiv beschäftigt, ist das Diabetische Fußsyndrom, im Fachjargon gern als DFS abgekürzt. Er weist immer wieder darauf hin, dass es nur dann zu einem DFS kommt, wenn bereits eine diabetische Neuropathie vorliegt. Bei einer diabetischen Neuropathie werden infolge des gestörten Glukosestoffwechsels feine Nervenfasern in den Extremitäten (vor allem in den Füßen) zerstört. Dies wiederum führt dazu, dass die Betroffenen bei Verletzungen der Füße kaum oder sogar gar keine Schmerzen mehr empfinden. Die Experten nennen das „Verlust der protektiven Sensation“, denn Schmerz ist ja normalerweise ein Alarmsignal des Körpers, das einen zu einer Verhaltensänderung zwingt und auf diese Weise vor weiteren Schäden schützt. Ohne Alarmsignal fehlt es an Motivation zur Verhaltensänderung und damit auch der Schutz vor weiteren Schäden.
Mit einer Neuropathie sind Verletzungen unvermeidlich
Deshalb sind Betroffene weder in der Lage, potenziell schädliches Verhalten zu vermeiden, noch im Falle von Verletzungen in angemessenem Umfang Hilfe anzufordern: „Mit einer Neuropathie müssen sie sich verletzen. Jedes kleine Steinchen kann den Fuß verletzen, jede etwas zu heiße Wärmflasche kann ihn verbrennen. Sie merken es nicht, und sie nehmen Verletzungen nicht ernst. Sie gehen zu spät zum Arzt und belasten den Fuß weiter, obwohl sie durchaus rational verstanden haben, dass es ihm nicht guttut“, erklärte Dr. Risse und ergänzte: „Das Ausmaß der Achtlosigkeit, das Betroffene an den Tag legen, ist für Unerfahrene im Umgang mit Menschen mit reduziertem Empfinden verblüffend.“
Der eigene Fuß scheint nicht mehr zum Körper zu gehören
Bereits vor vielen Jahren hat Dr. Risse für dieses Phänomen den Begriff des „Leibesinselschwunds“ geprägt (und es zum Beispiel hier in diesem Fachartikel erläutert), der allerdings bis heute nur Insidern ein Begriff ist: „Dieses Konzept besagt vereinfacht, dass der Fuß in der leiblichen Ökonomie des Betroffenen nicht mehr vorkommt, also nunmehr wie ein Umgebungsbestandteil wahrgenommen wird.“ Und wenn es einem x-beliebigen Umgebungsbestandteil nicht gut geht, dann lässt sich das durchaus über einen längeren Zeitraum hinweg ausblenden. „Diese Menschen sind nicht doof, auch wenn das viele Kolleginnen und Kollegen oft annehmen!“, betonte Dr. Risse, das diabetische Fußsyndrom sei also keine Vernachlässigung, sondern eine Wahrnehmungsstörung.
Warum hört den Betroffenen eigentlich niemand zu?
Dr. Risse hatte auch eine einleuchtende Erklärung für die häufige Beobachtung, dass Menschen mit DFS trotz Aufklärung über die Bedeutung geeigneten Schuhwerks zu enge Schuhe tragen: „Diese Patienten tragen immer zu enge Schuhe, weil sie eben nur auf diese Weise spüren, dass sie überhaupt Schuhe anhaben.“ Die Schuhe würden so eng geschnürt, bis der Knochendruck die entsprechenden Signale gebe. Für Behandlungsteams ergäben sich durch dieses Verhalten oft sehr frustrierende Situationen. Allerdings sei ein Großteil dieser Frustration auf mangelnde Kommunikation zurückzuführen. „Man muss genau hinhören, was diese Menschen erzählen, und sie ernst nehmen. Denn was die Patienten tatsächlich erleben, das zeigt die Literatur nicht“, mahnte Dr. Risse und berichtete, wie ihm Patientinnen und Patienten ihr Erleben der Neuropathie beschrieben hatten:
„Für mich fühlt es sich so an, als ob ich mit Strom gefoltert würde.“
„Zu Anfang fühlte ich mich wie ein kleines Kind, das über Stunden auf seinen Füßen sitzt: mit Nadelstichen von den Knien bis zu den Zehenspitzen.“
„Ich merke nicht mehr, dass ich in den Schuhen bin.“
„Ich habe gar keine Verbindung zur Erde mehr.“
„Ich habe manchmal das Gefühl, als ob der Fuß sich selbstständig macht.“
Der Diabetologe meinte hierzu: „Wenn man so etwas hört, lässt sich vielleicht eher nachvollziehen, warum jemand die Schuhe so eng schnürt, bis er die Füße wieder spürt.“ Auch wenn die engen Schuhe das diabetische Fußsyndrom weiter verschlimmern.
Für mich waren seine Ausführungen wirklich sehr erhellend. Gleichzeitig aber auch bestürzend. Denn es gibt sicherlich nur eine Handvoll Ärztinnen und Ärzte, die mit einer solchen Empathie an Menschen mit diabetischem Fußsyndrom herantreten. Die meisten vermitteln ihren Patientinnen und Patienten, dass sie selbst schuld an ihrem Zustand sind, weil sie sich nicht rechtzeitig um ihre Verletzung gekümmert haben. Sie geben sich wenig Mühe, ihr Entsetzen und ihren Ekel zu verbergen. Und sie fragen nicht nach den Hintergründen und dem individuellem Erleben der Erkrankung. Umso wichtiger finde ich es, darauf aufmerksam zu machen, dass es auch eine andere Sichtweise gibt. Eine, die auf Respekt und Empathie fußt – auch wenn ein diabetisches Fußsyndrom nicht schön anzusehen und verdammt schwierig zu behandeln ist.
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18. September 2019 um 10:09
Bevor ich Dr. Risse kannte hat man mir gesagt ich würde nicht älter als 50 Jahre so einen Diabetes kann man nicht einstellen 1990 hat mich Dr. Risse in seine Obhut genommen mir alles beigebracht was mit Diabetes zu tun hat mir immer geholfen wo andere Ärzte aufgaben wusste er immer eine Lösung am 23.9.2019 werde ich 81 Jahre seid ich ich Ihn kenne habe ich kein Krankenhaus Aufenthalt mehr gehabt von 1974 die Erkennung meines Diabetes bis1990 war ich von einem Krankenhaus ins andere dann zur Kur so ging das über viele Jahre jeder wollte mich einstellen doch keiner bekam meinen Diabetes inden Griff
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15. September 2019 um 17:08
Um Die eingangs gestellte Frage zu beantworten, hier ein paar Gründe:
1. Diabetes tut zu nächst nicht weh
2. Die Füße verstecken wir gerne in Socken / Schuhen
3. Jeder Feld,Wald und Wiesen Arzt darf Diabetes behandeln bzw. Medikamente, auch Insulin, verschreiben.
4. Selbst WENN der Diabetiker in ein „Zentrum für Diabetologie“ geht, werden seine Füße nicht automatisch begutachtet. (Da gibt’s keine Kontrollen der Behandlungsqualität!)
5. Diabetische Polyneuropathie kommt i.d.R. vor dem Absterbern der Gliedmaßen (is ganz praktisch, tut DANN auch nich mehr weh)
6. Je schlimmer die Erkrankung wird desto weniger muss der Patient zuzahlen …. (kost ja nix. Und wat nix kost is nix)
7. Der/Die Anderen ist/sind schuld. (Ist der Fuß ab, ist immer der Diabetes schuld. Das eigene Versagen NIE)
8. Vielen Betroffenen mangelt es an Synapsen unter der Schädeldecke. (Dummheit verstärkt die Neigung drohende Erkrankungen zu verdrängen)
9. Die kranken Kassen bezahlen nur für Reparation und nur selten für Prävention (Schulung für Diabetiker)
10. Unser Krankenversicherungssystem fördert die Vollkaskomentalität. Sich selbst und eine Wissensvermittlung zur Verbesserung seiner drohenden, noch nicht akuten, Erkrankung zu kümmern ist im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung nicht verankert. (in den USA ist das ganz anders. Diabetes ist Existenzbedrohend und deshalb ist der Organisationsgrad viel höher)
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