Es war das erste Mal, dass das Thema der sensiblen Sprache bei einer Jahrestagung der DDG aufgegriffen wurde. Dafür widmeten die Programmplaner ihm am 19. Mai 2023 in Berlin sogar gleich eine ganze Sitzung – wenn auch nur in einer Randzeit am späten Freitagnachmittag.
Vielleicht spielte es bei der Programmplanung auch eine Rolle, dass der frisch gekürte DDG-Präsident Prof. Andreas Fritsche (Leiter der Abteilung Prävention und Therapie sowie der Diabetesstation und Diabetesambulanz am Universitätsklinikum Tübingen) an unserem Positionspapier mitgearbeitet hatte und in der Sitzung selbst auch einen Vortrag hielt. In jedem Fall ist es nicht schädlich, wenn sich bekannte Köpfe der Szene zu einem Thema bekennen…
Jedenfalls begann die Sitzung mit Katarina Braune (Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin sowie Diabetologin an der Berliner Charité, lebt selbst mit Typ-1-Diabetes), die unser Positionspapier vorstellte. Es folgte Prof. Fritsche mit einem Vortrag über den Nutzen sensibler und bewusster Sprache für Diabetesteams – denn es geht tatsächlich nicht nur darum, uns Menschen mit Diabetes das Leben durch freundliche Ansprache zu erleichtern, sondern auch darum, sich präzise auszudrücken und damit Missverständnisse in der Therapie zu vermeiden. Nach ihm schilderte Dr. Jens Kröger (Diabetologe aus Hamburg und Vorstandsvorsitzender von DiabetesDE) die Bedeutung der Bewegung ‚Language Matters‘ für die Diabetes-Community. Moderiert wurde die Sitzung von Prof. Bernhard Kulzer (Psychologe an der Diabetesklinik Mergentheim), der sich ebenfalls sehr engagiert mit der Bedeutung von Sprache und Kommunikation in der Diabetestherapie beschäftigt.

Bildbeschreibung: Prof. Bernhard Kulzer, Katarina Braune, Antje Thiel, Dr. Jens Kröger und Prof. Andreas Fritsche nach der Sitzung zu Language Matters beim DDG-Kongress in Berlin, alle präsentieren das gemeinsame Positionspapier von #dedoc, DiabetesDE und DDG (Foto: Katarina Braune, vielen Dank nochmal für das Bild!)
Diabetes in den Medien: Aussagen mit nahezu unbegrenzter Reichweite
Mein Part war es, die Bedeutung Sprache rund um Diabetes in der Medienlandschaft kritisch unter die Lupe zu nehmen. Denn es ist ja so: Wenn im direkten persönlichen Austausch diskriminierende Äußerungen fallen, ist es schlimm genug. Doch ihre Reichweite ist begrenzt. Bedient aber die Lokalzeitung, das TV-Magazin, die Klatschgazette, das große Online-Portal oder die Fachzeitschrift diskriminierende Klischees, erreichen diese Aussagen eine nahezu unbegrenzte Reichweite. Zudem erreichen Medien Menschen der betreffenden Communitys ebenso wie die unbeteiligte Öffentlichkeit und Politik bzw. Kostenträger und andere Institutionen. Journalist*innen tragen daher besondere Verantwortung für ihren Sprachgebrauch im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes. Ich stellte eingangs zunächst einmal ein paar mehr oder minder rhetorische Fragen an das Publikum, das – wie bei einem DDG-Kongress üblich – in erster Linie aus Diabetolog*innen und anderen Diabetesfachkräften bestand:
- Glauben Sie, dass sich Medienschaffende mit diskriminierungssensibler Sprache beschäftigen sollten?
- Haben Sie den Eindruck, dass Publikumsmedien im Zusammenhang mit Diabetes oft überholte bzw. eindimensionale Klischees bedienen?
- Sind Sie beim Medienkonsum im Zusammenhang mit Diabetes schon einmal auf Bilder gestoßen, die Sie als diskriminierend empfunden haben?
- Finden Sie, dass die in Fachmedien verwendete Sprache ein modernes Therapieverständnis widerspiegelt?
- Woher stammen eigentlich diskriminierende Formulierungen/Darstellungen, die von Medien verbreitet werden?
- Glauben Sie, dass die Darstellung von Diabetes in den Publikumsmedien Menschen mit Diabetes eher eher ermutigt/bestärkt oder eher frustriert/verletzt?
- Glauben Sie, dass die mediale Darstellung von Diabetes den Behandlungserfolg beeinflussen kann?
Sehen Sie für sich selbst Möglichkeiten, die mediale Darstellung von Diabetes zu verbessern?
Verzerrte Darstellung führt zu verzerrter Wahrnehmung der Realität
Natürlich steht für mich außer Frage, dass Medien sich mit diskriminierungssensibler Sprache beschäftigen sollten. Schließlich sind Medien dafür da, der breiten Öffentlichkeit Wissen zu vermitteln, aber auch über Prävention und Behandlung von Krankheiten zu informieren. Und natürlich informieren sich auch Menschen im Politikbetrieb und in Krankenkassen in den Medien. Gleichzeitig hat die mediale Darstellung Einfluss auf die Selbstwahrnehmung und das Selbstmanagement von Menschen mit chronischen Erkrankungen. Und eine verzerrte Darstellung führt logischerweise zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität. Diese Zusammenhänge wurden durchaus auch schon wissenschaftlich untersucht, z. B. im Bundesgesundheitsblatt 2021; 64:28–36 https://doi.org/10.1007/s00103-020-03250-4.
Leidende Zuckerkranke, die durch die Medien geistern
Schaut man sich die Berichterstattung über Diabetes in den Publikumsmedien an, dann stolpert man fast an jeder Ecke über Begriffe wie ‚Zuckerkrankheit‘ und ‚XY leidet an Diabetes‘. Nun ist Zuckerkrankheit leider ein irreführender Begriff. Unsereins hat zwar eine Erkrankung, die sich durch einen gestörten Blutzuckerstoffwechsel auszeichnet. Doch in der breiten Öffentlichkeit wird die Bezeichnung nur allzu oft gleichgesetzt mit zu hohem Zuckerkonsum: „Ach, du hast also immer zu viel Zucker gegessen?“ oder „Das darfst du aber nicht essen, da ist ja Zucker drin!“ Ich glaube, der Begriff ‚Diabetes‘ ist auch medizinischen Laien zumutbar – und er klingt zumindest nicht gleich beim ersten Hören nach Zucker, Vorurteilen und Verboten. An dem so häufig verwendeten Begriff ‚an Diabetes leiden‘ stört mich, dass er so sehr nach passivem Dahinsiechen klingt. Dabei ist das Leben mit Diabetes glücklicherweise nicht immer leidvoll. Oft ist es blöd, aber zum Glück nicht immer, wie ja z. B. auch beachtliche sportliche oder schauspielerische Karrieren von Menschen mit Diabetes zeigen…




Bildbeschreibung: Screenshots von verschiedenen Medien, in denen von ‚Patienten mit Zuckerkrankheit‘ die Rede ist, die ‚an Diabetes leiden‘
Dicke, gesichtslose Körper stehen sinnbildlich für Diabetes
Auch die Bildauswahl in Publikumsmedien verdient es, dass wir sie mal kritisch unter die Lupe nehmen. Viel zu häufig werden Artikel über Diabetes (und natürlich auch über Adipositas, wobei beide Erkrankungen praktischerweise gern gleichgesetzt werden) nämlich mit dicken, gesichtslosen Körpern bebildert. Das ist eine unwürdige Entmenschlichung, und ich würde mir wünschen, dass Publikumsmedien endlich einmal ein differenzierteres, facettenreicheres Bild von Menschen mit Diabetes zeichnen würden!



Bildbeschreibung: Screenshots von verschiedenen Medien, in denen im Zusammenhang mit Diabetes dicke gesichtslose Menschen abgebildet sind
Nun sind die Publikumsmedien nicht ganz allein für diese diskriminierende Bildsprache verantwortlich. Denn nicht alle Journalist*innen bedienen sich selbst geschossener Fotos. Vielmehr nutzen die allermeisten Redaktionen auch Bilddatenbanken, um ihre Artikel passend zu bebildern. Dort kann man – entweder kostenlos oder gegen eine Lizenzgebühr – Bilder zu allen erdentlichen Themen herunterladen und für die eigene Berichterstattung nutzen. Schauen wir also einmal, welche Treffer man in einer dieser Bilddatenbanken mit dem Suchbegriff ‚Diabetes‘ findet. Ich habe ihn bei Pixabay eingegeben, bei iStock und anderen Bilddatenbanken sind die Ergebnisse aber inhaltlich ähnlich:











Bildbeschreibung: Auswahl von Suchergebnissen in der Bilddatenbank Pixabay zum Stichwort ‚Diabetes‘. Die Bilder zeigen Unmengen Süßigkeiten, Menschen beim Naschen, dicke Bäuche, Insulinspritzen, Gemüse und eine schlanke Frau beim Stretching
Die Botschaften sind also recht eindeutig: Zuckerkonsum macht Diabetes. Zuckerkonsum macht Übergewicht. Menschen mit Diabetes können an keinem Buffet vorbeigehen, oder sie liegen faul auf der Couch und essen unkontrolliert Süßes. Ebenfalls mit Diabetes in Verbindung gebracht werden Blutzuckermessungen und Insulinspritzen. Und natürlich ist auch klar, was gegen Diabetes hilft: Sport und viel Gemüse!
Schönes Vorbild: Diskriminierungsfreie Stockfotos zu Adipositas
Ein Lichtblick in diesem Zusammenhang ist eine Bilddatenbank der European Coalition for People living with Obesity (ECPO), die sie in Zusammenarbeit mit Patient*innen-Organisationen mit Leben gefüllt hat. Hier finden Medienschaffende und andere Interessierte lizenzfreie Stockfotos von Menschen mit Adipositas in unterschiedlichen Kontexten (Alltag, Familie, medizinisches Umfeld, körperliche Aktivität, Beruf etc.), ohne sie als gesichtslose und entmenschlichte Dicke darzustellen:

Bildbeschreibung: Screenshot von https://ecpomedia.org/image-bank, wo man durch die verschiedenen Kategorien stöbern kann.
Ich selbst habe mir vorgenommen, immer zuerst hier nachzuschauen, wenn ich ein Symbolfoto zum Thema Adipositas benötige. Und ich würde mir wünschen, dass andere Journalist*innen es mir gleichtun und diese Datenbank noch viel bekannter machen. Vielleicht sollten wir innerhalb der Diabetes-Community auch einmal darüber nachdenken, eine Bilddatenbank zu erstellen, in der Diabetes in allen Lebenslagen und ohne die üblichen Vorurteile und Stereotype dargestellt wird? Wenn ihr Ideen hierzu habt, meldet euch gern bei mir, vielleicht kriegen wir das hin!
KI-generierte Bilder können bestehende Stereotypen verfestigen
Neuerdings muss man nicht zwingend auf Bilddatenbanken zurückgreifen oder selbst die Kamera zücken, wenn man das Thema Diabetes passend bebildern möchte. Man kann schließlich auch eine Künstliche Intelligenz (KI) bitten, ein typisches Bild zu generieren. Genau das hat der eingangs erwähnte Prof. Fritsche getan, als er seinen eigenen Language Matters-Vortrag vorbereitet hat. Er gab Midjourney mit dem Prompt ‚Ganzkörperbild eines Menschen mit Typ 2 Diabetes‘ den Auftrag, ein typisches Bild zu generieren. Midjourney ist ein sogenanntes Text-to-Image-Tool, das durch künstliche Intelligenz aus textlichen Beschreibungen Bilder generiert. Problematisch dabei: Das Wissen der KI speist sich zum einen aus einem Vortraining, daneben aber aus dem gesammelten verfügbaren Internet-Wissen und reproduziert beim Generieren von Bildern deshalb munter alle Vorurteile und Stereotype, die darin kursieren. In einem Artikel im Online-Portal ‚Die Neue Norm‘ kann man nachlesen, was das für die Darstellung von Menschen mit Behinderung bedeutet. Hier hatte der Autor der KI den Auftrag erteilt, das Bild einer Künstlerin mit Behinderung in ihrem Atelier zu generieren. „Es ist schnell zu erkennen, dass auch hier Stereotype reproduziert werden. Am Beispiel der Künstlerin mit Behinderung sieht man, dass, wenn man den Begriff Behinderung eingibt, die Behinderung auf einen Rollstuhl bezogen wird und auch die Personen schnell in ihrer Körperform (rundlicher, gebrechlicher) verändert werden und vor allem auch eher älter wirken.“ Als Antwort auf Prof. Fritsches Prompt spuckte Midjourney jedenfalls folgendes Bild aus, das dieser mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat (auch an dieser Stelle nochmal herzlichen Dank dafür!):

Bildbeschreibung: Ergebnis des Promtps ‚Ganzkörperbild eines Menschen mit Typ 2 Diabetes‘, erstellt mit ChatGPT, Midjourney
Lassen wir dieses Bild doch einmal auf uns wirken: Da steht ein dicker, grimmig blickender Mann, dessen Bauch deutlich über den Bund seiner unmodernen beigefarbeben Hose quillt. Seine Chancen für den ‚Sexiest Man Alive-Award‘ schätze ich eher gering ein. Überhaupt wirkt nichts an diesem Mann und seiner Umgebung irgendwie attraktivAd und ansprechend: Die beige-geblümte Tapete stammt eindeutig aus dem letzten Jahrhundert und hätte längst mal erneuert werden sollen. Doch vermutlich fehlt dem KI-generierten Mann der Elan für eine solche Aktion ebenso wie die Selbstdisziplin beim Essen und beim Sport. Oder was sind eure Gedanken, wenn ihr dieses Bild betrachtet? Ist es nicht gruselig, wenn KI auf diese Weise bekannte Stereotype verfestigt?
Einseitiges Framing: Wer ist für die Lösung des Problems verantwortlich?
Leider ist bereits ohne KI ein sehr einseitiges ‚Framing‘ von Menschen mit Diabetes allgegenwärtig. Kleine Erklärung dazu: Das Framing-Konzept basiert auf der Annahme, dass Medien durch Selektion, Betonung aber auch Exklusion bestimmte Ausschnitte der Realität hervorheben und dadurch bei Empfänger*innen eine bestimmte Sichtweise eines Problems, Interpretationen und Bewertungen auslösen. Framing gehört (bis zu einem gewissen Grad) zum professionellen Journalismus, dessen Aufgabe es ist, Fakten und Ereignisse zusammenzufassen, einzuordnen und zu kommentieren. Allerdings beeinflusst Framing auch, wer für das beschriebene Problem und seine Lösung verantwortlich gemacht wird (responsibility framing). Die Zuschreibung von Verantwortung wiederum beeinflusst die individuelle und öffentliche Wahrnehmung sowie ggf. auch politische Entscheidungen – z. B. über Einführung/Nichteinführung bestimmter Maßnahmen oder Programme.
Menschen mit Diabetes sind selbst Ursache ihres Gesundheitsproblems
Welches Framing zum Thema Diabetes in deutschen Leitmedien vorherrscht, wurde z. B. 2020 unter dem Titel ‚Dick, doof, Diabetes – Die Darstellung von Diabetes in der Presse. Eine quantitative Inhaltsanalyse der Berichterstattungsmuster über Diabetes‘ von Linda Julie Carlotta Budde in einer Bachelorarbeit an der HMTM Hannover untersucht. Sie bemängelt darin, dass beim Typ-2-Diabetes in den Medien vor allem das individuelle Verhalten (Lebensstil) in den Vordergrund gestellt wird: „Eine durch das Framing nahegelegte Interpretation ist, dass die Individuen durch ihren Lebensstil größtenteils selbst die Ursache für das Gesundheitsproblem darstellen und auch selbst die Lösung des Problems herbeiführen müssen“, schreibt Linda, die mir ihre Bachelorarbeit für die Vorbereitung meines Vortrags freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat (vielen Dank nochmal an dieser Stelle!).
Soziale, politische und ökonomische Faktoren fallen unter den Tisch
Natürlich gibt es eine Reihe von Lebensstilfaktoren, die einen Typ-2-Diabetes begünstigen. Das möchte auch niemand bestreiten. Doch es ist nicht fair, bei der Darstellung von Diabetes soziale, politische und ökonomische Faktoren schlichtweg unter den Tisch fallen zu lassen, wie Lantz Gollust in einer anderen (englischsprachigen) Untersuchung mit dem Titel ‚Communicating population health: Print news media coverage of type 2 diabetes‘ (Social Science & Medicine 2009, https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2009.07.009) bemängelt: „Results demonstrate that the predominant explanation for type 2 diabetes was behavioral factors and obesity. The predominant strategy to address diabetes was individualized behavior changes and medical care. […] In reaction to the dominance of individualized frames of health in public discourse, advocates seek to reframe public health problems to encompass social, political, and economic factors.“ Übersetzt also in etwa: „Die Ergebnisse zeigen, dass individuelles Verhalten und Adipositas die vorherrschende Erklärung für Typ-2-Diabetes sind. Die vorherrschende Strategie im Umgang mit Diabetes sind entsprechend Verhaltensänderungen und medizinische Versorgung. […] Aktivist*innen wollen diese dominanten individualisierten Gesundheits-Frames im öffentlichen Diskurs verändern und um soziale, politische und ökonomische Faktoren erweitern.“
Auch Lebensverhältnisse beeinflussen das Diabetesrisiko!
Denn eigentlich ist ja hinlänglich bekannt, dass neben dem individuellen Verhalten auch die Lebensverhältnisse das Diabetesrisiko beeinflussen. Dazu zählen das Wohnumfeld, der sozioökonomische Status, der Zugang zu Bildung, Sport- und Bewegungsangeboten sowie gesunden Lebensmitteln etc. Wenn ich z. B. in einer Gegend wohne, in der es keine sicheren Fuß- und Radwege oder Parks gibt, dann fällt es mir schwer, mehr Bewegung in meinen Alltag einzubauen. Wenn es in meiner Nachbarschaft drei Fast-Food-Restaurants, aber keinen Gemüseladen gibt, dann ist es für mich schwieriger, eine gesunde Ernährung hinzukriegen. Die gesunde Wahl muss die leichtere Wahl sein! Im Fachjargon nennt man das ‚Verhältnisprävention‘. Diabetesorganisationen wie die DDG und DiabetesDE fordern seit langem neben der Förderung individueller Lebensstilmaßnahmen auch öffentliches Engagement für die Verhältnisprävention (Lebensmittelkennzeichnung, Mehrwertsteuersenkung für gesunde Lebensmittel, Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel, mehr Schulsport etc.) Deren Bedeutung ist in meinen Augen allerdings noch längst nicht überall durchgesickert, denn diese Aspekte finden in der Berichterstattung über Typ-2-Diabetes so gut wie keine Beachtung. In den Bilddatenbanken, in denen die oben gezeigten Fotos zu hauf entdecken kann, findet man unter dem Stichwort Diabetes übrigens keine Bilder von Betonwüsten ohne Rad- oder Fußwege, keine Bilder von geschlossenen Turnhallen, die nicht für Schulsport zur Verfügung stehen. Auch keine Bilder von aggressiver Werbung für Junkfood und ebenso wenig Bilder von Kraftwerken, die Feinstaub ausstoßen (woduch sich nachweislich das Risiko für etliche Erkrankungen, u. a. auch Diabetes, erhöht). Nein, in der öffentlichen Wahrnehmung ist Diabetes Privatsache: Selbst schuld, dass du Diabetes hast. Und selbst Schuld, wenn du ihn nicht eigenständig in den Griff bekommst.
Ebenso ungünstiges Framing auch in den Fachmedien
Leider sind die Fachmedien um keinen Deut besser, was das einseitige Framing von Menschen mit Diabetes angeht. Auch hier liegt der Fokus auf der individuellen Verantwortung für die eigene Gesundheit. Zudem herrscht mit dem durchgängig verwendeten Begriff der ‚Diabeteseinstellung‘ ein sehr maschinistisches Bild von Diabetestherapie vor: Ein Rädchen hier, ein Knöpfchen da drehen, und schon ist die Maschine wieder sauber eingestellt und läuft wie am Schnürchen. Schlimm ist auch, dass in vielen Fachartikeln die ‚Compliance‘ bzw. ‚Therapietreue‘ als Bewertungskriterium fungiert: Wer sich an ärztliche Anweisungen hält (Compliance), ist ein guter Diabetiker. Wer sich nicht daran hält – egal wie nachvollziehbar die individuellen Gründe hierfür sein mögen – ist ein schlechter Diabetiker. Bei dem Begriff der ‚Therapieverweigerung‘ schwingen natürlich jede Menge Vorwürfe mit: Wie kann es sein, dass Menschen so unvernünftig und kooperationsunwillig sind und im Umgang mit ihrer Gesundheit derart versagen? Ein besonders vergiftetes Beispiel für dieses sprachliche Framing habe ich vor einigen Jahren in der Pharmazeutischen Zeitung gefunden:

Bildbeschreibung: Screenshot eines Artikels in der Pharmazeutischen Zeitung, in dem von Typ-2-Diabetikern mit schlecht einstellbaren Blutzuckerwerten die Rede ist, die die Einnahme von Metformin verweigern
Einfach abnehmen und den Diabetes besiegen?
In den Medien herrscht aber nicht nur die einseitige Sichtweise vor, dass Menschen mit Diabetes es selbst in der Hand haben, ihre Krankheit zu vermeiden bzw. wenigstens bei der Therapie brav mitzuspielen. Die erforderlichen Verhaltensänderungen werden allzu oft auch als einfach umsetzbare Anpassungen dargestellt, die eigentlich niemanden überfordern dürften. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Kommunikation der sogenannten DiRECT-Studie (das Kürzel steht für Diabetes Remission Clinical Trial) von 2017, die in der Fachwelt recht hohe Wogen geschlagen hat. In dieeser Studie gelang es 86% der Teilnehmenden, die >15kg abnahmen, eine Remission ihres Typ-2-Diabetes zu erzielen. Sie hatten also erstmal keinen behandlungsbedürftigen Typ-2-Diabetes mehr. Bei minus 10-15 kg waren es 57%, bei minus 5-10kg waren es 34%.
Tolle Botschaft mit vorwurfsvollem Unterton
Das ist erst einmal natürlich eine supertolle Botschaft: Wer ordentlich Gewicht verliert, hat tatsächlich eine Chance, seinen Typ-2-Diabetes wieder loszuwerden. Leider wurde diese schöne Botschaft in vielen Medien sehr verkürzt aufgegriffen: Man muss ja nur abnehmen und kann den Diabetes besiegen. Das impliziert vorwurfsvolle Fragen wie: „Warum machen es so wenige Leute, wenn es doch so einfach ist?“ oder „Warum belasten diese faulen, undisziplinierten Diabetiker immer noch unsere Sozialsysteme mit ihrer Erkrankung, für die es doch eine so einfache Lösung gibt?“ Dabei war das Abnehmen in der DiRECT-Studie wirklich kein Kinderspiel. Zum einen hatten sämtliche Teilnehmende Studie seit maximal 6 Jahren Typ-2-Diabetes (und damit vermutlich noch ausreichend eigene Insulinsekretion, um wieder ein normales Zucker-Insulin-Level herstellen zu können). Damit ist klar, dass sich das in der DiRECt-Studie angewandte Modell nicht für Menschen mit längerer Diabetesdauer eignet.
Wer soll satt werden von 850 kcal am Tag?
Zum anderen mussten sie ein sehr striktes Diätregime mit ca. 850 kcal pro Tag in Form von Flüssignahrung für 3-6 Monate über sich ergehen lassen. 850 kcal pro Tag sind verdammt wenig Nahrung! Sowas durchzuziehen ist sehr hart! Ich erinnere mich gut an 2018, als ich mit striktem Kalorienzählen 8kg abgenommen (und in den Folgejahren wieder zugenommen habe, aber das ist eine andere Geschichte, die ich demnächst vielleicht auch noch erzähle) hatte und mich sehr disziplinieren musste, um täglich 1.500 kcal nicht zu überschreiten. Und dabei war mein Ausgangspunkt kein ganz schlechter: Ich hatte keine gänglich ungesunden Essgewohnheiten, die ich über Bord werfen musste. Ich verfügte bereits über ein solides Wissen in Ernährungsfragen und musste auch nicht aufs Geld schauen, wenn ich für meinen Abnehmplan andere Lebensmittel benötigte. So komfortabel können nicht alle Menschen in eine Diät starten.
Es ist nicht nur eine Frage des Willens und der Disziplin
Was in der Berichterstattung über die DiRECT-Studie ebenfalls häufig unerwähnt blieb, war die Tatsache, dass die Remission nicht unbedingt von Dauer war: Nach 12 Monaten waren noch 46% der Teilnehmenden ‚diabetesfrei‘, nach 24 Monaten lag diese Rate bei 36%. Stattdessen suggerierten die Schlagzeilen, es sei einfach eine Frage des Willens und der Disziplin, dem Beispiel der DiRECT-Teilnehmenden zu folgen. Welche Hürden dabei zu überwinden sind, die nicht alle im Einflussbereich des Individuums liegen, spielt in der Berichterstattung kaum eine Rolle.
Gefühle von Schuld und Scham sind die Folge
Welche Folgen diese allgegenwärtige Darstellung für Menschen mit Typ-2-Diabetes hat, haben Forschende in Australien 2013 in einer Studie untersucht. An ihr nahmen 26 Personen teil, die in persönlichen Interviews über soziale Stigmatisierung in Bezug auf Typ-2-Diabetes berichteten.
Sie empfanden das geschilderte Framing in den Medien als ambivalent. Zum einen fanden sie, dass der Fokus auf die Eigenverantwortung hilfreich ist, denn damit ist die Erkrankung schließlich etwas, das sich individuell kontrollieren lässt. Doch gleichzeitig erklärten sie, dass der einseitige Blick auf den persönlichen Lebensstil – etwa übergewichtig oder sportlich nicht aktiv zu sein – zu negativen Stereotypen und einer generell vorwurfsvollen Haltung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Typ-2-Diabetes führt. Für diese Stigmatisierung machten die Befragten in erster Linie die Medien verantwortlich, wie diese Grafik zeigt:

Bildbeschreibung: Grafik, nach der Medien für die allermeisten Befragten eine Quelle von Stigmatisierung darstellen. Quelle: Browne/Ventura/Mosely/Speight. BMJ Open 2013, doi:10.1136/bmjopen-2013-003384
Medien reproduzieren Formulierungen und Frames von Fachleuten
Und deshalb schloss ich meinen Vortrag im Mai bei der DDG-Tagung mit einem Appell an Ärzt*innen und Diabetesorganisationen, bei eigenen Publikationen und im Umgang mit Medien an eine diskriminierungsfreie und sensible Sprache zu denken. Schließlich greifen Medienschaffende bei ihren Recherchen regelmäßig auf Quellen wie Fachmedien zurück und übernehmen ggf. auch deren Framing. Oder sie bitten Fachleute aus ihrer Umgebung bzw. aus Fachgesellschaften oder Berufsverbänden um Interviews und fragen nach deren Einschätzung. Medienschaffende recherchieren in Pressemittelungen, Publikationen, Stellungnahmen von Fachgesellschaften und anderen Organisationen. Die von Fachleuten verwendeten sprachlichen Formulierungen und inhaltlichen Frames werden auf diese Weise auch in der medialen Berichterstattung reproduziert.
Fazit: Es gibt noch viel zu tun!
- Publikumsmedien bedienen im Zusammenhang mit Diabetes in Wort und Bildoft eindimensionale Klischees.
- In der Berichterstattung über Diabetes überwiegt Framing, das die individuelle Verantwortung der Betroffenen in den Vordergrund stellt. Diabetogene Lebensverhältnisse spielen so gut wie keine Rolle.
- Es ist schwierig, in Bilddatenbanken Stockfotos zum Thema Diabetes zu finden, die nicht klischeebehaftet sind.
- Die Darstellung von Diabetes in den Medien kann Menschen mit Diabetes emotional belasten und z. B. dazu beitragen, dass sie ihren Diabetes verheimlichen.
- Medienschaffende sollten sich mit diskriminierungssensibler Sprache und Framing beschäftigen.
- Ärzt*innen, Fachgesellschaften und andere Organisationen sollten als journalistische Quelle auf ihre Sprache und implizierte Frames und Botschaften achten.
