Der Stress seines geregelten Lebens in London war ihm zuviel, seither ist Lyndon Owen in ganz Europa auf der Straße zu Hause. Immer mit dabei: sein Typ-1-Diabetes.
Der eine oder andere von euch hat vielleicht schon mein Portrait von Lyndon Owen im aktuellen Heft des „Focus Diabetes“ gelesen. Die Redaktion hat mir einige Seiten für seine Geschichte eingeräumt, insbesondere wegen der tollen Fotos von Marko Priske finde ich den Artikel auch sehr gelungen – doch ich habe bei meiner Recherche natürlich einiges mehr über Lyndon und seinen Kumpel José erfahren als im Heft tatsächlich Platz hatte. Deshalb könnt ihr die Geschichte hier inklusive ergänzendem „Bonusmaterial“ lesen.
Die Digitalisierung macht scheinbar auch vor Bettlern nicht Halt…
Ich lernte Lyndon Owen (40) und seinen Freund José Manuel Calvo (58) im Januar 2014 in Berlin kennen. Mir fehlte noch ein passendes Foto für einen Artikel über die Chirurgin Dr. Jenny de la Torre, eine faszinierende Frau, die in Berlin ein spendenfinanziertes Gesundheitszentrum für Wohnungslose aufgebaut hat. Ich hatte sie in ihrer Einrichtung besucht um sie für das Chirurgen Magazin zu portraitieren. Leider mochte sich keiner ihrer Patienten von mir fotografieren lassen. Deshalb freute ich mich, als ich etwas später an der Friedrichstraße, Ecke Unter den Linden, zwei Männer sitzen sah, die abgerissen genug aussahen um als wohnungslos durchzugehen. Auf ihren Schildern war zu lesen, dass sie um Geld „für mehr Bier“, „für Whiskey“, „für Wein“, „für andere Laster“ oder „für den Kater“ bettelten. Auf einem weiteren Schild stand „Immerhin sind wir ehrlich!“ Die beiden ließen sich bereitwillig von mir fotografieren und drückten mir ein Visitenkärtchen mit ihrer Internetadresse „Lazy beggers“ – „die faulen Bettler“ – in die Hand: „Visit us on facebook – and send us the picture!“, riefen sie mir noch nach. Zwei Bettler mit eigener Homepage und Facebook-Profil? Die Digitalisierung macht offenbar vor nichts und niemandem Halt…

„Für mehr Bier“, „für Wein“, „für Whiskey“, „für andere Laster“ oder „für den Kater“ – die Passanten können sich selbst aussuchen, wofür sie bei den Lazy Beggars spenden möchten
Reportage über das Leben mit Typ-1-Diabetes auf der Straße
Zurück aus Berlin, schickte ich den beiden eine Freundschaftsanfrage und postete dann mein Foto an ihre Facebook-Pinnwand. Natürlich nicht, ohne mich neugierig in ihrer Timeline umzusehen. Ich stolperte über einen Eintrag, der schon eine Weile zurücklag. Darin schrieb Lyndon: „Ich sollte wohl so langsam das Internet-Café verlassen, damit José nicht denkt, ich läge mit einer Hypoglykämie auf der Straße.“ Hypoglykämie? Sofort schrieb ich ihn an: „Du hast Diabetes?“ Ja, Lyndon ist Diabetiker. Typ-1-Diabetes, mit ungefähr Mitte 20 diagnostiziert. „Wie regelst du das auf der Straße? Woher bekommst du deine Rezepte für Insulin und Blutzuckerteststreifen? Hast du Lust, dich von mir portraitieren zu lassen?“ Und so kam es, dass ich Lyndon und José mit ihren beiden Hunden im Mai 2014 zusammen mit dem Fotografen Marko Priske im Auftrag von „Focus Diabetes“ fast einen ganzen Tag lang begleitete und sie über ihr Leben auf der Straße ausfragte. Als Marko mit den beiden auf der Suche nach einem geeigneten Foto-Hintergrund loszog, übernahm ich sogar für eine Weile die Verantwortung für die Hunde und den „Shop“, wie Lyndon und José ihren Bettelplatz mit den verschiedenen Schildern und Geldtöpfchen nennen. Ich saß also auf der Straße, bettelte in Vertretung für sie weiter und studierte die Mienen der Passanten. Eine Frau beugte sich zu mir und reichte mir zwei Euro. Sie schaute mich streng an und sagte: „Das ist aber nicht für Alkohol, sondern für die Hunde!“ Ein seltsames Gefühl.
Auch das Internet ist eine große Straße, auf der gebettelt wird
Lyndon und José hingegen sind an solche Kommentare gewöhnt. Und nehmen das Geld natürlich gern an, auch wenn sie niemals für ihre Hunde betteln würden: „Das ist unethisch“, findet José, „Hunde gehören zur Familie, und Familienmitglieder instrumentalisiert man nicht zum Betteln.“ Es ist nicht der einzige Punkt, der die beiden von ‚gewöhnlichen’ Bettlern unterscheidet. Denn sie verstehen sich nicht als gestrandete Wohnungslose, sondern als Lebenskünstler und Kleinunternehmer. Ihr Geschäftsmodell mit den verschiedenen Schildern kommt gut an: Viele Passanten schmunzeln, zücken ihr Portemonnaie und legen Lyndon und José ein paar Münzen in das jeweilige Töpfchen. Auf ihrer Homepage kann man auch über den Bezahldienst Paypal Geld spenden. „Das Internet ist eine große Straße, deshalb betteln wir auch dort“, heißt es auf der Internetseite. Wer mag, kann die beiden auch per E-Mail zu sich nach Hause einladen und ihnen einen Schlafplatz oder eine Dusche anbieten.
Lyndon war erfolgreicher freiberuflicher IT-Experte
Nur wenige Menschen reagieren unwirsch auf die ‚faulen Bettler’. Und wer den beiden Männern nahelegt, sich doch lieber einen Job zu suchen anstatt zu betteln, dem entgegnet Lyndon: „Hast du heute mit deiner Arbeit schon jemanden zum Lächeln gebracht? Wir bringen jeden Tag mindestens hundert Menschen zum Lächeln, genau das ist unser Job, und er macht uns Freude.“ Freude an seinem Job hatte Lyndon nicht immer. Der gebürtige Waliser ist Informatiker und verdiente in den 1990er Jahren in London gutes Geld, indem er als freiberuflicher IT-Experte für Banken Netzwerke einrichtete. Er arbeitete viel und lang. „Nach einem monatelangen Projekt konnte ich meist ein paar Wochen lang Urlaub machen“, erzählt er. „Doch irgendwann saß ich in meiner beinahe abbezahlten Wohnung in London und fand, dass es so nicht weitergehen kann. Ich wollte nicht länger zwischen Arbeit und Freizeit unterscheiden, sondern jeden Tag genau das tun, was mir Freude bereitet.“
Auch José hatte keine Lust mehr auf seinen Job als Solar-Fachmann
Einen Tag später packte Lyndon seinen Rucksack und seine Jonglierbälle, verschloss seine Wohnung und gab den Schlüssel ein paar Wohnungslosen auf der Straße: „Ihr könnt da drin wohnen und duschen, so lange es noch Strom und Wasser gibt.“ Lyndon trampte nach Spanien und traf in Granada bald einen Mann mit einer ähnlichen Geschichte. „José saß auf einer Parkbank und drehte sich einen Joint. Er sprach Englisch und bot mir einen Zug an. Seither sind wir gemeinsam unterwegs.“ Josés Bruch mit dem geregelten Leben lag schon ein paar Jahre zurück. Nach seiner Scheidung hatte er seine beiden Söhne aus den Augen verloren, sein Leben erschien ihm sinnlos. Also hängte er seinen Job als Spezialist für Transistoren in der Solarbranche an den Nagel und zog auf die Straße: „Ich wollte endlich mein eigenes Leben führen.“ Sehnsucht nach dem Alltag, den sie zurückgelassen haben, kennen die beiden nicht. „Wir hätten ja auch andere Optionen“, sagt Lyndon. „Wenn ich meine Entscheidung nur einen Tag lang bereut hätte, dann wäre ich jetzt nicht hier.“
Tagesumsatz durch’s Betteln? Zwischen 2 und 1.200 Euro
Seit mittlerweile zwölf Jahren reisen die beiden Freunde gemeinsam durch Europa. Auf meine Frage, wie viel sich mit der Bettelei denn verdienen lässt, kommt die erstaunliche Antwort: „Zwischen 2 und 1.200 Euro am Tag!“ Sie freuen sich, als sie mein verdutztes Gesicht sehen und erzählen sofort die dazugehörige Anekdote: „Vor ein paar Jahren in Spanien oder Portugal kam ich gerade aus dem Internet-Café und wollte José begeistert erzählen, dass uns ein Unbekannter mit Paypal 120 Euro geschickt hatte. So etwas kommt nicht oft vor“, sagt Lyndon. Und José grinst: „Ich konnte allerdings locker mithalten, denn mir hatte jemand einen Umschlag mit 1.200 Euro hingelegt.“ Ein Geschenk anlässlich eines Feiertages, an dem man traditionell das gesammelte überschüssige Geld eines ganzen Jahres („sobra“, was auf Portugiesisch so viel wie „Überschuss“ bedeutet) an einen Bedürftigen weitergibt. Bislang ist es mir zwar nicht gelungen, den Hintergrund dieser Tradition herauszufinden, doch eine schöne Geschichte ist es allemal.
Bücherlesen ist schlecht für’s Geschäft, doch zum Glück gibt es Hörbücher
Geld, das per Paypal bei Lyndon und José eintrifft, nutzen sie zum Bezahlen bei Online-Händlern wie Ebay oder Amazon. Wenn sie sich länger in einer Stadt aufhalten, suchen sie sich ein Lokal aus – am liebsten einen Irish Pub –, in dem sie regelmäßig ihr Feierabendbier trinken und an dessen Adresse sie sich Bestellungen liefern lassen. „Wir kaufen auch gern Hörbücher, die wir auf unseren iPhones hören“, sagt Lyndon. „Zum Telefonieren nutzen wir sie nicht, wir haben keinen Telefonvertrag. Das macht auch nichts, denn ein wichtiger Grund, warum ich damals ausgestiegen bin, war diese verdammte ständige telefonische Erreichbarkeit. Doch für Hörbücher und Filme möchte ich das iPhone nicht missen.“ Noch lieber als Hörbücher sind ihm gedruckte Bücher: „Ich lese sehr gern, und manchmal kaufe ich auch englische Bücher im Antiquariat. Doch Lesen ist schlecht für’s Geschäft – wenn nach unten in mein Buch schaue, geben die Leute weniger Geld. Wenn ich Hörbücher höre, kann ich gleichzeitig Blickkontakt suchen.“
Sie streiten nur über Kleinigkeiten – wie in einer guten Ehe
Einen weiteren Teil des erbettelten Geldes sparen Lyndon und José für Bahn- oder Bustickets. In Spanien, Portugal, Griechenland, Deutschland und Frankreich haben sie schon Station gemacht. Viele Orte und Begegnungen sind in der Fotogalerie ihrer Homepage dokumentiert, die Lyndon regelmäßig vom Internet-Café aus aktualisiert. Wenn es um das Thema Internet-Café geht, merkt man Lyndon seine Vergangenheit als Programmierer noch an. So erzählt er: „Es ist verdammt schwer, ein gutes Internet-Café zu finden. Die meisten haben nur virenverseuchte Rechner, da möchte ich keines meiner Passwörter eingeben.“ Und so ist er schon mit dem einen oder anderen Betreiber eines Internet-Cafés ins Geschäft gekommen: „Ich habe für sie die Rechner von Viren befreit, dafür durfte ich kostenlos surfen.“ Auch von seinen Trips mit José berichtet er gern: „In der Nähe von Granada gibt es Höhlen, in denen wir zusammen mit anderen Aussteigern sieben Monate verbracht haben“, erzählt Lyndon, und José ergänzt: „Dort lebten früher einmal Sklaven, die am Bau der Alhambra beteiligt waren.“ Als die beiden die Hippie-Höhlen wieder verließen, gehörten auch die beiden Hunde Whiskey und Nemo zu ihrer kleinen und unzertrennlichen Wahlfamilie. „Klar, manchmal streiten wir uns. Aber meist nur über Kleinigkeiten, nicht über wichtige Dinge. Wie in einer guten Ehe eben“, sagt Lyndon mit einem Augenzwinkern.
Lyndons und Josés Schlafplatz: Eine große Pappe unter einem Vordach
Lyndon zeigt uns auch ihren Schlafplatz, etwa zehn Minuten zu Fuß von ihrem „Shop“ in der Friedrichstraße entfernt und in einer ruhigen Seitenstraße gelegen. Hier haben er und José unter dem Vordach eines leerstehenden Bürogebäudes eine große Kartonpappe ausgebreitet und ihr Gepäck sowie ihren Vorrat an Hundefutter deponiert. „Wenn man seine Sachen ordentlich aufräumt und die Pappe mit Steinen beschwert, sehen Vorbeigehende, dass sich jemand etwas dabei gedacht hat und dass es kein Müll ist, der entsorgt werden muss.“ Ihnen ist deshalb noch nichts abhanden gekommen, obwohl der Schlafplatz den ganzen Tag über unbewacht bleibt. Ich frage Lyndon, ob er sich nicht manchmal ein bisschen mehr Privatsphäre wünscht – schließlich kann er nirgends einmal die Tür abschließen, nie ganz für sich und unbeobachtet sein. Er und José leben ja nicht immer in Großstädten, entgegnet er: „Bei einer unserer Reisen durch Spanien haben wir auf dem Land wochenlang in einem Baumhaus gelebt, da war weit und breit kein Mensch. Wieviel mehr Privatsphäre kann man sich wünschen?“ Was ihm in seinem Vagabundenleben viel mehr fehlt, ist die Möglichkeit, regelmäßig zu duschen. Sein Kumpel José wiederum vermisst es zu kochen und erzählt: „Wenn wir Freunde besuchen und uns für ein paar Tage bei ihnen einquartieren, dann gehe ich als erstes einkaufen, scheuche alle anderen aus der Küche und fange an zu kochen.“
Als Vagabund sucht sich Lyndon nicht an jedem Ort einen Arzt
Als wäre Lyndons und Josés Leben nicht schon ungewöhnlich genug, hat Lyndon noch einen weiteren Begleiter ständig im Gepäck: seinen Typ-1-Diabetes. „Ich war schon Mitte 20, als ich die Diagnose erhielt. Als ich noch in London lebte, habe ich meinen Diabetes ganz normal gemanagt, wie man es eben so lernt. Mit regelmäßigen Untersuchungen und Arztbesuchen, zu denen ich seitenweise Tabellen mit Messdaten mitbrachte.“ Seit er keinen festen Wohnsitz mehr hat, läuft es anders. Zwar ist Lyndon als Bürger Großbritanniens über das dortige staatliche Gesundheitssystem NHS krankenversichert und kann im europäischen Ausland kostenlos zum Arzt gehen, sich behandeln und Rezepte ausstellen lassen. „Doch wir sind meist nicht lang am selben Ort, so dass ich mir nicht überall einen Arzt suche.“
Diabetesmanagement ohne Teststreifen und Bolusinsulin
Häufig hat er kein schnellwirksames Insulin parat. Dann nutzt Lyndon nur sein Langzeitinsulin für die Blutzuckereinstellung: „Wenn ich eine Mahlzeit mit vielen Kohlenhydraten esse, spritze ich mir eben eine Extradosis Lantus.“ Oft hat er auch monatelang keine Teststreifen bei sich und misst seinen Blutzucker – bis auf gelegentliche Tagesprofile – nicht regelmäßig. „Ich habe gelernt, meinen Blutzucker selbst einzuschätzen und denke, dass ich ihn auch ohne Messgerät auf 20 mg/dl genau bestimmen kann. Ich spüre genau, wenn der Blutzucker höher als 200 mg/dl liegt. Außerdem merke ich mir, was ich esse und wie viel ich mich bewege. Und ich habe immer Süßigkeiten und Orangensaft bei mir, falls ich morgens mit einer Unterzuckerung aufwachen sollte“, sagt Lyndon. Auf Fälle dieser Art ist auch José vorbereitet: „Wenn Lyndon unterzuckert, wird er ganz wirr und seine Augen flackern. Dann flöße ich ihm schnell Orangensaft ein und passe vor allem auf, dass Passanten keinen Notarzt rufen – denn bis der kommt, ist Lyndon längst wieder auf den Beinen.“ Lyndon sieht das genauso: „Das wäre doch verschwendete Notarzt-Zeit.“ Als die beiden vor einer Weile mehrere Monate in Madrid verbrachten, war Lyndon einige Male bei einer Ärztin. „Beim ersten Termin hat sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, mich erst einmal von Kopf bis Fuß untersucht und mein Blut ins Labor geschickt. Danach war sie ganz erstaunt, wie lebendig und gesund ich bin. Ich präsentierte ihr keine Messdaten, sondern erzählte ihr, wie ich mich fühle – und genau das wollte sie auch wissen. Sie fand es in Ordnung, wie ich mit meinem Diabetes umgehe.“

Wenn kein schnellwirksames Insulin verfügbar ist, spritzt Lyndon auch zu den Mahlzeiten Langzeitinsulin

Lyndon besitzt zwar ein Blutzuckermessgerät, doch es kommt nur selten zum Einsatz, weil er meist keine Teststreifen hat
Gute Diabeteseinstellung? Mein Diadoc ist skeptisch
Mein Diabetologe in Elmshorn, Dr. Thomas Kröplin von der Praxis am Hogenkamp, dem ich von Lyndons Diabetesmanagement erzähle, ist diese Therapievariante allerdings nicht ganz geheuer. Er sagt: „Zunächst einmal bin ich überzeugt, dass man seine Blutzucker-Wahrnehmung tatsächlich trainieren und dann auch ohne regelmäßige Messungen ein passables Gefühl für zu hohe und zu niedrige Werte entwickeln kann.“ Voraussetzung sei dabei jedoch, dass man sein ‚Blutzuckergefühl’ immer wieder einmal durch Blutzuckermessungen überprüft. „Und selbst bei einer guten Wahrnehmung kann man sich auch sehr täuschen. Regelmäßige Blutzuckermessungen sind deshalb für Typ-1-Diabetiker absolut unverzichtbar.“ Dass nach etwa 15 Jahren Typ-1-Diabetes nur mit einem Basalinsulin eine akzeptable Therapie möglich ist, hält Dr. Kröplin für „maximal unwahrscheinlich“. Lantus wirke viel zu langsam, Blutzuckerspitzen nach den Mahlzeiten könnten damit gar nicht wirksam gesenkt werden. „Unter meinen Patienten gab es auch schon Typ-1-Diabetiker, die ausschließlich Basalinsulin gespritzt haben – Stichwort „Insulin Purging“ oder Gewichtsreduktion durch hohe Blutzuckerwerte. Auffällig wurde es, weil sie sich nie Rezepte über kurzwirksames Insulin in der Praxis abgeholt haben. Alle mir bekannten Patienten mit Typ-1-Diabetes, die auf prandiale Injektionen verzichten und nur selten ihren Blutzucker messen, haben HbA1c-Werte von über 10%.“ Diese Patienten seien in besonderen Situationen wie etwa akuten Infekten extrem durch lebensbedrohliche ketoazidotische Stoffwechselentgleisungen bedroht. Von den möglichen Folgeschäden an den Organen nach Jahren ganz zu schweigen. Dr. Kröplin hält es für möglich, dass Lyndon sogar einen guten HbA1c-Wert hat, wenn seine BZ Werte häufig eher im Hypoglykämiebereich liegen. „Ein guter HbA1c-Wert bedeutet aber nicht automatisch eine gute Einstellung. Hypoglykämische Phasen werden durch postprandiale Blutzuckerentgleisungen dann quasi in der Bilanz ausgeglichen. Doch eine Einstellung im Hypoglykämiebereich kann akut gefährlich sein, und langfristig führt sie zu einer Hypo-Wahrnehmungsstörung. Vielleicht merkt Lyndon seine Hypoglykämien also doch nicht so zuverlässig, zumal unter Alkoholeinfluss?“
Lyndons Mutter macht sich keine Sorgen um ihren Sohn
Weniger Sorgen um Lyndons Gesundheit macht sich hingegen seine Mutter, Lee Levesly, die ich über Facebook ausfindig machen konnte. Sie lebt mit ihrer Familie nach wie vor in Wales, hält ebenfalls über Facebook Kontakt mit ihrem Sohn und besucht ihn regelmäßig – zumindest wenn er sich gerade in einer Stadt aufhält, die sie ohnehin gern einmal besichtigen möchte. „Sein heutiges Diabetesmanagement bereitet mir weniger Kopfzerbrechen als wenn er noch immer in seinem zeitintensiven, stressigen und verantwortungsvollen Job arbeiten würde.“ Mit der Entscheidung ihres Sohnes, auf der Straße zu leben, ist Lee einverstanden: „Als Lyndons Mutter wünsche ich mir, dass er glücklich ist. In der Vergangenheit hatte er ein Leben, das man nach allgemeinen Maßstäben als erfolgreich bezeichnen würde. Doch dieses Leben brachte ihm vor allem Stress, Kummer und Diabetes.“ Lee glaubt, dass Lyndons heutiger Lebenswandel ihn glücklich und frei macht. „Ich bewundere ihn für seine Entscheidungen, für seine Lebensphilosophie und für seinen unerschütterlichen Sinn für Humor. Wann immer ich ihn besuche, habe ich das Gefühl, dass er es genau richtig macht.“
Wann und wo sie ihn das nächste Mal besuchen wird, steht noch nicht fest. Ich verfolge die Trips der beiden Vagabunden via Facebook, gelegentlich chatte ich mit Lyndon. Nach unserem Treffen im Mai 2014 waren Lyndon und José zunächst für ein paar Tage in den Niederlanden unterwegs, kehrten danach wieder nach Berlin zurück und machten sich anschließend auf den Weg in Richtung Spanien. Derzeit halten sie sich in Lissabon auf und hoffen auf einen milden Winter.
Hier noch ein paar mehr Bilder, die bei unserem Treffen mit Lyndon und José im Mai entstanden sind – ganz herzlichen Dank an Marko, dass ich sie hier veröffentlichen darf!
Pingback: Traurige Nachricht aus Madrid: Lyndon Owen, der Vagabund mit Typ-1-Diabetes, ist gestorben | Süß, happy und fit
Pingback: Jahresrückblick 2017: Von Diabetes über Schilddrüse, Rennradsturz und Kongressen bis zum Buchmanuskript | Süß, happy und fit
Pingback: Mal eben kurz die Welt retten… naja, aber immerhin einen Typ-1-Diabetiker ohne Insulin! | Süß, happy und fit
Pingback: Mit Diabetes durch das Jahr: Mein persönlicher Rückblick auf 2014 | Süß, happy und fit!