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Von wegen zuckerkrank – ein Blog über glückliches Leben, leckere Ernährung und Sport mit Typ-1-Diabetes

Traurige Nachricht aus Madrid: Lyndon Owen, der Vagabund mit Typ-1-Diabetes, ist gestorben

Ein Kommentar

Er hatte seinen Job als Informatiker, seine Eigentumswohnung und sein geregeltes Diabetesmanagement in London zurückgelassen, um auf der Straße zu leben. Etwa 16 Jahre lang tingelte der Brite Lyndon Owen mit dem Spanier José Manuel Calvo durch ganz Europa. Nun ist er in Madrid gestorben, wo die beiden zuletzt überwiegend lebten.

Gerade heute hat mich Facebook daran erinnert, wie ich Lyndon kennengelernt habe. Vor genau 5 Jahren nämlich war ich in Berlin unterwegs, um die Ärztin Jenny de la Torre zu porträtieren, die dort ein Gesundheitszentrum für Wohnungslose betreibt. Anders als die Gäste im Gesundheitszentrum ließen sich Lyondon und José, die ich zufällig auf der Straße traf, gern fotografieren. Und weil sie mich baten, ihnen das Foto weiterzuleiten, gaben sie mir ihre Visitenkarte mit. Wohnungslose Bettler mit Visitenkarte, Internetauftritt und Paypal-Konto? Das fand ich zumindest ungewöhnlich.

erinnerung an lazy beggers

Erstes Treffen in Berlin für ein Porträt im „Focus Diabetes“

Noch ungewöhnlicher fand ich die ganze Geschichte, als ich mich auf der Facebook-Seite der beiden herumtrieb. Ich stolperte über einen Eintrag, der schon eine Weile zurücklag. Darin schrieb Lyndon: „Ich sollte wohl so langsam das Internet-Café verlassen, damit José nicht denkt, ich läge mit einer Hypoglykämie auf der Straße.“ Hypoglykämie? Sofort schrieb ich ihn an: „Du hast Diabetes?“ Ja, Typ-1-Diabetes, mit ungefähr Mitte 20 diagnostiziert. „Wie regelst du das auf der Straße? Woher bekommst du deine Rezepte für Insulin und Blutzuckerteststreifen? Hast du Lust, dich von mir porträtieren zu lassen?“ Und so kam es, dass ich ein Porträt über Lyndon für den Focus Diabetes schrieb. Das ganze Porträt inklusive „Making-of“ kann man hier nachlesen.

 

 

Keine Blutzuckermessungen und Insulintherapie ausschließlich mit Lantus

Sein Diabetesmanagement war übrigens nichts, das man auch nur im Entferntesten zur Nachahmung empfehlen sollte: Lyndon verzichtete komplett auf Blutzuckermessungen und spritzte lediglich Basalinsulin (Lantus). Er erzählte mir, er habe ein sehr gutes Körpergefühl und spüre zuverlässig, wenn der Zuckerwert zu hoch oder zu niedrig sei. Ich war skeptisch. Denn selbst wenn man seinen Glukosewert halbwegs zuverlässig bestimmen könnte, indem man aufmerksam in sich hineinlauscht, dann könnte man einen zu hohen Wert allein mit Lantus nicht schnell genug senken. Und nach kohlehydrathaltigen Mahlzeigen steigt der Blutzucker nun einmal heftig an, wenn nicht sofort schnelles Insulin vorhanden ist. Doch Lyndon war ein erwachsener Mensch und hatte in seiner britischen Heimat durchaus gelernt, wie man einen Typ-1-Diabetes eigentlich in Zaum hält. Und mein Job als Journalistin war es, ihn zu porträtieren, nicht ihn eines Besseren zu belehren.

Wiedersehen in Lissabon bei einer spontanen Rettungsaktion

Auch nach der Geschichte für den Focus Diabetes blieb ich über Facebook lose in Kontakt mit Lyndon. Schmunzelte über skurrile Beiträge, die er teilte und die einen sehr speziellen, durch und durch sympathischen Humor offenbarten. Dass ich ihn im September 2017 noch einmal sah, war purer Zufall. Da hatte ich in Lyndons Timeline gelesen, dass sein Insulin zur Neige ging und dass er keine Möglichkeit sah, sich neues zu besorgen. Er hielt sich zu dem Zeitpunkt in Lissabon auf, und auch ich war gerade in Lissabon, um über den Kongress der Europäischen Diabetesgesellschaft (EASD) zu berichten. Ich dachte mir, dass ich unmöglich einen anderen Diabetiker hängen lassen kann, der dringend Insulin braucht und – aus welchen Gründen auch immer – keines bekommen kann. Vor allem, wenn ich gerade für ein paar Tage quasi „direkt an der Quelle“ bei einem Diabeteskongress herumspringe. Tatsächlich gelang es mir, über die Diabetes-Community zehn Fertigpens Lantus aufzutreiben; in der Industrieausstellung ergatterte ich noch einen ganzen Schwung Pennadeln dazu. Ich fuhr in die City zu dem Spot, an dem Lyndon und José an der Straße bettelten, und übergab ihm sein Insulin. Bei der Gelegenheit erzählte er mir ein bisschen ausführlicher, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen war. Die ganze Geschichte, wie ich in Lissabon für Lyndon Insulin organisierte, kann man hier nachlesen.

 

Lyndons Gesundheitszustand hatte sich dramatisch verschlechtert

Als ich an dem Tag eine Weile mit Lyndon durch die Straßen streifte und er mir „sein“ Lissabon zeigte, hatte ich bereits den Eindruck, dass sich sein Gesundheitszustand seit unserem ersten Treffen deutlich verschlechtert hat. Lyndon war zwar ein paar Jahre jünger als ich, wirkte auf mich aber wie ein alter Mann. Er ging gebeugt und hatte manchmal Schwierigkeiten, die Balance zu halten – etwa wenn es von der Straße auf den Gehsteig eine Stufe hinauf ging. Ich erinnerte mich, dass er auf Facebook etliche Male über Krankenhausaufenthalte berichtet hatte, weil er gestürzt war und sich am Kopf verletzt hatte. Und im Stillen dachte ich mir, dass er womöglich seine Unterzuckerungen nicht mehr rechtzeitig spürt und deshalb leicht stürzt. Doch immerhin hatte er erst einmal wieder Insulin als Basis-Lebensversicherung.

Lyndon Lazy Beggers passed away peacefully in his sleep on Thursday in Madrid

In letzter Zeit waren Lyndon und José nicht mehr überall in Europa unterwegs, sondern lebten überwiegend in Madrid. Auf der Facebook-Seite der „Lazy Beggers“ konnte ich gelegentlich verfolgen, welche Artikel aus dem „Guardian“ Lyndon las. Oder dass er kurz nach Silvester ein Hörgerät auf der Straße gefunden hatte, das er zu einem Kopfhörer für seine geliebten Hörbücher umfunktionierte. Doch am Samstagmorgen war dort eine ganz andere Nachricht zu lesen, die seine Mutter mit Lyndons Freunden geteilt hatte: „I am sorry to inform all his friends on here that my dear son Lyndon Lazy Beggers passed away peacefully in his sleep on Thursday in Madrid.“

War es eine schwere nächtliche Hypo? Oder eine Ketoazidose?

Lyndon war mir kein enger Freund, und doch war diese Nachricht ein echter Schock für mich und berührte mich sehr. Ich weiß nichts Näheres über die Umstände seines Todes. Doch es erscheint mir schwer vorstellbar, dass sein Typ-1-Diabetes nichts damit zu tun hatte – möglicherweise eine unbemerkte schwere nächtliche Hypo, in Verbindung mit Alkohol und eisigen Temperaturen auf der Straße? Oder eine Ketoazidose infolge eines winterlichen grippalen Infekts mit entsprechend erhöhtem Insulinbedarf, den er aber nicht ausreichend abdecken konnte, weil er seine Zuckerwerte gar nicht kannte oder nicht genug Insulin hatte? Vermutlich werde ich nie erfahren, was genau die Ursache für Lyndons frühen Tod war, wer ihn am Morgen gefunden hat, wo und wie er bestattet wird und wie es allein für José weitergeht.

Lyndon ging seinen eigenen Weg, lebte von Tag zu Tag

In den Kommentaren unter dem Facebook-Post seiner Mutter war neben Beileidsbekundungen vor allem eine Botschaft immer wieder zu lesen: „Lyndon ging seinen eigenen Weg.“ Tatsächlich hatte er sich von den Zwängen einer bürgerlichen Existenz befreit, von Tag zu Tag gelebt. Das tat er allerdings auch in Bezug auf seinen Typ-1-Diabetes. Regelmäßige Blutzuckerkontrollen, ärztliche Untersuchungen, die erforderliche Vorratshaltung bei Insulin und anderen Dingen des täglichen Diabetesbedarfs, der tägliche Denksport beim Berechnen der erforderlichen Insulindosen – das schien im ebenfalls mit zu viel Zwang und Gängelung verbunden zu sein.

Diabetesmanagement braucht ein Mindestmaß an Zwang und Routine

Dass der Zwang zu Routine und Disziplin viele Menschen mit Diabetes gehörig nervt, ist ja nichts Neues. Auf meinen ersten Beitrag über die „Lazy Beggers“ und Lyonds Leben auf der Straße mit Typ-1-Diabetes gab es entsprechend auch eine Reihe von Kommentaren im Sinne von: „Es ist toll, wie die beiden leben – man sieht, dass man mit Typ-1-Diabetes eben doch alles machen kann.“ Diesen Menschen möchte ich heute gern sagen: Klar, ihr könnt mit Typ-1-Diabetes alles machen. Auch auf der Straße leben und weitgehend auf ein normales Diabetesmanagement verzichten. Doch es geht eben möglicherweise nicht allzu lange gut. Wer an seinem Leben hängt, wird sich beim Diabetesmanagement wohl oder übel einem Mindestmaß an Zwang und Routine unterwerfen müssen.

Ich werde mich an Lyndon als einen sympathischen Aussteiger erinnern, der bewusst auf materiellen Wohlstand und auf Lebensplanung verzichtete. Der meine Filterblase mit ganz anderen Perspektiven und Beobachtungen bereicherte, die mir sonst nicht zugänglich gewesen wären. Aber auch als jemanden, dem Zwang und Routine so zuwider waren, dass er sein Diabetesmanagement vernachlässigte und (vermutlich) mit dem Leben dafür bezahlte.

R.I.P., lieber Lyndon.

 

Ein Kommentar zu “Traurige Nachricht aus Madrid: Lyndon Owen, der Vagabund mit Typ-1-Diabetes, ist gestorben

  1. Eine sehr traurige Geschichte. Ich bin sehr glücklich, dass ich mich gesund ernähre und sonst keinerlei Probleme habe.

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