Süß, happy und fit

Von wegen zuckerkrank – ein Blog über glückliches Leben, leckere Ernährung und Sport mit Typ-1-Diabetes

What’s on a diabetic’s mind… Das Gehirn steht einfach nicht still!

5 Kommentare

„Sei nicht traurig, dass du Diabetes hast, du machst das doch so toll und hast deine Krankheit so prima im Griff!“ Ihr kennt solche Sprüche sicherlich. Immer wirklich lieb und aufmunternd gemeint, und genau diese Facette weiß ich auch zu schätzen. Und doch nagt manchmal etwas in mir, wenn ich Freunde oder Verwandte so etwas sagen höre. „Habt ihr eigentlich die geringste Vorstellung davon, was mir in puncto Diabetes im Laufe eines Tages so alles durch den Kopf geht? Durch den Kopf gehen muss? Was für Datenmengen das sind?“

Nein, die meisten Menschen haben keine Vorstellung davon. Weder davon, wie viele Gedanken das sind, noch davon, welchen Stellenwert sie manchmal einfordern. Und deshalb finde ich es wichtig, sich gelegentlich darüber mitzuteilen. Nicht um sich mit einer im Alltag meist gut beherrschbaren Krankheit (ja ich weiß, Krebs ist viel schlimmer…) hervorzutun, oder um Mitleid oder Beifall zu heischen. Sondern um aufzuklären und um Verständnis zu werben. Wie viele Gedanken mir in Sachen Diabetes durch den Kopf schießen und sich ganz ungeniert in meiner Tagesplanung breitmachen, ist mir vorgestern beim Frühstück in meinem Hotel in Nürnberg einmal wieder bewusst geworden. Ich war dorthin gereist, um von der Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) zu berichten – mal wieder ein sehr spannender Kongress, von dem ich allerhand tolle Themen mitgebracht habe, über die ich auch hier in Kürze das eine oder andere berichten werde.

Was es schon vor dem Frühstück alles nachzudenken gibt…

Ich saß also im Frühstückssaal des Hotels und verputzte die Ration, für die ich schon im Vorfeld oben im Zimmer Insulin gespritzt hatte, damit ich ausreichend Spritz-Ess-Abstand (SEA) einhalte. Das sind bei mir trotz schnellwirksamem Analoginsulin (Liprolog) morgens gern mal 20 bis 30 Minuten Vorlauf. Halte ich sie nicht ein, schießt mein Glukosewert nach dem Frühstück erst einmal in unangenehme Höhen, bevor er sich auf einem verträglichen Level wieder einpendelt. Ich versuche daher, auch auf Reisen nicht von meiner gewohnten Routine abzuweichen:

Aufwachen, Zuckerwert scannen, über das Frühstück nachdenken – was es an den Frühstücksbuffets in Hotels zu essen gibt, ist ja meist recht vorhersehbar, so dass ich dann je nach Laune und Appetit beschließe, wie viele Kohlenhydrateinheiten (KE) ich heute essen möchte. Nach dem Duschen spritze ich Insulin, damit es ausreichend Vorsprung vor dem Frühstück hat, während ich mich eincreme, anziehe, meine Haare föne und mich schminke. Auch den Weg vom Schlafzimmer zum Frühstückssaal, der im Hotel in der Regel länger ist als zu Hause (Zeitfaktor!) und die damit verbundene, blutzuckersenkende Bewegung (ich verzichte nach Möglichkeit auf den Fahrstuhl und stapfe durch’s Treppenhaus, auch wenn mein Zimmer irgendwo in den oberen Stockwerken liegt), versuche ich zu berücksichtigen. Im Frühstückssaal angekommen, scanne ich mit routiniertem Blick das Buffet und verteile im Geiste mein verfügbares Budget an Kohlenhydraten. Ich hole mir einen Teller, suche mir mein Essen zusammen, setze mich an einen Tisch und beginne zu frühstücken.

Die rätselhafte Tischnachbarin und ihr Insulinpen neben dem Teller

So also auch vorgestern in Nürnberg. Ich ließ es mir schon eine Weile schmecken, als zwei Frauen an den Nebentisch traten. „Ist dieser Tisch noch frei?“ Jep, er war noch frei. Die eine der beiden markierte ihren Platz mit ihrer Handtasche, die andere mit ihrem Insulinpen, den sie neben den Teller legte. Dann gingen beide ans Buffet. „Ah, ein Insulinpen, sieht aus wie ein Novopen Echo, schönes Rot…“, dachte ich, und weiter: „Die macht es anscheinend anders als ich und spritzt nicht schon auf dem Zimmer Insulin, sondern erst unmittelbar vor dem Essen, wenn sie sich ganz sicher ist, was sie tatsächlich auf dem Teller hat. Dafür hat sie ihren Pen mit nach unten genommen.“

Jede Menge schnelle Kohlenhydrate, aber kein Tröpfchen Insulin

Die beiden Frauen kamen zurück ihren Tisch, setzten sich hin und begannen zu frühstücken. Allerdings mache die Diabetikerin keinerlei Anstalten, Insulin zu spritzen. Sie biss in ihr Weißmehlbrötchen, das sie mit etwas Diätmargerine (urgs) und Marmelade bestrichen hatte und trank dazu ein Glas Saft. Ich wurde ein bisschen unruhig und schielte immer wieder zu ihr hinüber, wann sie denn endlich einen Frühstücksbolus abgeben würde. Schließlich hatte sie sich Nahrungsmittel ausgesucht, die fast ausschließlich aus schnellwirksamen Kohlenhydraten bestehen, die in rasantem Tempo ins Blut gelangen und den Blutzucker ebenso rasant ansteigen lassen. Ich überschlug die Nahrungsmenge auf ihrem Teller und tippte auf ca. 6 KE, die sie da auf ihrem Teller hatte – ohne Wurst, Käse oder Ei, die den Glukoseanstieg (Stichwort Fett und Eiweiß) verzögern würden. Ich wurde ein bisschen unruhig.

Warum spritzt sie nicht endlich Insulin für ihr Frühstück?

„Vielleicht hatte sie ja nach dem Aufstehen eine Hypo und muss ihren Blutzucker erst einmal stabilisieren, bevor sie Insulin spritzt?“, überlegte ich und beäugte die Frau verstohlen aus den Augenwinkeln. Ihr stand kein Schweiß auf der Stirn, sie hatte keine dunklen Ränder unter den Augen, wirkte nicht wie durch den Fleischwolf gedreht. Ihre Hände zitternten nicht, wenn sie ihre Tasse oder Besteck hielt. Eine Hypo hielt ich für unwahrscheinlich. ABER WARUM IN ALLER WELT SPRITZTE SIE NICHT ENDLICH INSULIN? Vielleicht gehörte sie zu der Fraktion Diabetiker, die immer noch den Versprechen der Insulinhersteller glauben, die uns weismachen wollen, dass man bei schnellwirksamen Analoginsulinen gar keinen SEA mehr einzuhalten braucht und sogar nach dem Essen spritzen kann? Vielleicht nutzte sie kein CGM oder Freestyle Libre, und ihre nächste Blutzuckermessung wäre erst in ein paar Stunden fällig, wenn ihr Zuckerwert von seinem unbemerkten Höhenflug zurückgekehrt sein würde? Ich habe schließlich auch erst durch die kontinuierlichen Glukosekurven des Freestyle Libre verstanden, wie unglaublich wichtig ein SEA ist. Sollte ich sie darüber aufklären? Aber damit hätte ich mich sicherlich nur blamiert. Womöglich war die Frau Diabetologin oder Diabetesberaterin und selbst zum Kongress in Nürnberg um sich fortzubilden und mit Kolleginnen auszutauschen?

Diabetesgedanken bilden ein diffuses Grundrauschen in meinem Kopf

Ich sagte nichts. Schaute nur immer wieder heimlich auf ihren Insulinpen, der während des gesamten Frühstücks unbenutzt neben ihrem Teller lag. Es machte mich schier wahnsinnig. Später kam mir der Gedanke, dass die Dame ja vielleicht doch schon auf ihrem Zimmer Insulin gespritzt haben könnte – und ihren Pen nur mit in den Frühstückssaal gebracht hat, falls sie mehr Kohlenhydrate verputzen möchte als ihr schon gespritzter Bolus hergibt. Erst dann kam mein in Aufruhr geratenes Diabetikerhirn wieder ein bisschen zur Ruhe. Soviel zum Thema Diabetesgedanken. Ganz schöne Datenmengen, die da hin- und hergewälzt werden, nicht wahr? Und an der Nasespitze ansehen konnte man mir all diese Gedanken vermutlich nicht. Die Anekdote, die ich euch hier geschildert habe, spielte sich auch nur in einem Zeitraum von etwa 15 Minuten ab, und meine Gedanken betrafen nicht einmal mich selbst, sondern eine völlig fremde Person. Es lässt sich nicht leugnen: Die Diabetesgedanken laufen einfach immer im Hintergrund mit, bilden eine Art diffuses Grundrauschen in meinem Kopf, das Außenstehende in der Regel nicht wahrnehmen. Und dieses Grundrauschen kann nerven wie ein Tinnitus, der einfach nicht weggehen will. Wer schon einmal Bekanntschaft mit diesem fiesen Fiepen in den Ohren gemacht hat, kann möglicherweise ein bisschen besser nachfühlen, was in einem Diabetikerhirn im Hintergrund pausenlos vor sich geht. Ganz egal, ob man seinen Diabetes nun gut oder schlecht im Griff hat, das Grundrauschen ist eben da, man kann sich ihm nicht entziehen. Mal kann man es kurzzeitig ein wenig ausblenden, mal ist es laut und unerbittlich. Aber eben immer da.

Vom Auf und Ab der Gedanken dringt nur wenig nach außen

In diesem Zusammenhang fällt mir ein abstraktes Bild ein, das ich vor etlichen Jahren (genau genommen 2003, als ich noch gar keinen Diabetes hatte) einmal gemalt habe. Es zeigt einen auf die Hand gestützten Kopf, durch den sich ein Auf und Ab von Gedanken zieht. Nach außen dringen aber nur einige wenige davon, das meiste spielt sich im Kopf ab. Leider ist das Bild verschollen, dummerweise bei irgendeinem Umzug verschwunden. Vielleicht sollte ich es noch einmal neu malen. Heute passt es noch viel besser zu meinem Gedankenalltag als damals. Zum Glück hatte ich es seinerzeit ganz passabel fotografiert, so dass ich es euch zeigen kann, auch wenn das Original nicht mehr auffindbar ist.

gedanken

5 Kommentare zu “What’s on a diabetic’s mind… Das Gehirn steht einfach nicht still!

  1. Pingback: Was würdest du tun, wenn es eine Pille gegen Diabetes gäbe? | Süß, happy und fit

  2. Ich hab gerade einen Artikel für die Blood Sugar Lounge fertig, der geht auch in die Richtung 🙂
    Ich war letztens auf einem Insulinpumpenkolloquium und die Gespräche am Tisch gingen allesamt darum, wie viel BE dieses Hirseplätzchen jetzt wohl haben könnte…

    Gefällt 1 Person

  3. Liebe Lena, hab vielen Dank für deinen netten Kommentar! So traurig es mich auch stimmt, dass gute und zeitnahe Schulungen selbst bei Typ-1-Diabetes offenbar nicht überall selbstverständlich sind, freut es mich ungemein, dass du auf meinem und anderen Blogs Rat und Tipps für deine persönliche Diabeteseinstellung findest. Das geht tatsächlich runter wie Butter! 🙂 Alles Gute weiterhin – und stay tuned…

    Like

  4. Hiermit möchte ich dir, liebe Antje, ein großes Dankeschön sagen: dafür, dass ich per Zufall vor ca. 2,5 Jahren über deine Seite „gestolpert“ bin, auf der ich so viele ähnlichen Gedanken gefunden habe und noch mehr Antworten auf die Fragen, die mich als „Neudiabetikerin“ beschäftigten.
    Da meine praktische Schulung vor Ort (in Deutschland) folgendermaßen ausgesehen hat:
    1. Diagnose und eine Beratungsstunde während der mir die „Technik“ mit Normalinsulin erklärt und viel Spaß beim Ausprobieren gewünscht wurde, anschließend durfte ich sofort zu meiner Arbeit, da es sich ja alles im Alltag eingestellt werden sollte. 2. Eine Woche später ein Termin beim Diadoc und eine Beratungsstunde. Ich durfte dann wieder in einem Monat erscheinen. 3. Erst nach vier Monaten kam unsere „Schulungsgruppe“ aus drei Personen mich eingeschlossen zusammen. Beim nächsten Termin blieb ich alleine übrig, um alle Fragen von den Schulungskarten zu beantworten. Das habe ich brav und gut bewältigt, da ich ja in den vorausgegangenen 4 Monaten wirklich viel Zeit hatte, um selbständig fleißig nach Informationen zu suchen/auszuprobieren: Bücher, Internet und mit meinen Gedanken klar zu kommen. An dieser Stelle DANKE dir und anderen Autoren (wie z.B von „Bloog Sugar Louge“) für eure praktische Beiträge, die haben mir sehr geholfen und helfen auch heute noch 🙂
    Als vor Kurzem bei einem Quartalsbesuch in der Diapraxis beim Durchschauen meiner Daten aufgefallen ist, dass ich ja nur den aller ersten Teil der Schulung mitgemacht habe, waren alle sehr erstaunt und mir schnell noch neue vorgeschlagen 😉 Nee, danke jetzt erstmal keinen Bedarf …..

    Gefällt 1 Person

  5. Vielen Dank für den Artikel. Erinnert mich an die ersten vier Jahre nach meiner Typ 1 Diagnose.

    Das war eine Steinzeit Medikation, leider kann ich keinen zur Verantwortung ziehen und ich war so unbedarft und habe den Ärzten vertraut. Grosser Fehler, in diesem Fall.

    Zwei Diabetologen haben mich quasi ausgelacht wegen des Spritz- Essabstandes. „Das war früher, heute haben wir schnellwirksame Insuline, kann man eigentlich spritzen wann man will, auch nach dem Essen .“

    Über diesen Begriff SPRITZ ESS ABSTAND bin ich bei irgendeiner Lektüre gestolpert, habe mich weiter reingelesen, eine Schulung in Deutschland mitgemacht die es hier in der Schweiz in der Form leider nicht gibt um zu erkennen was für einen Müll man mir erzählt hat.

    Über die Webseite http://www.diabetesnet.com (englisch) habe ich berechnet wieviel Insulin ich eigentlich benötige und in welchem Verhältnis (Basal/Bolus). Diese Brechnung ergab, dass ich ca. die doppelte Menge benötige als verschrieben.
    Diese Berechnung wurde mir später von einem der beiden Ärzte bestätigt, da fiel mir daraufhin alles aus der Hose.

    Habe eine gute App gefunden (finde ich jedenfalls) RAPIDCAL, mit Namen, auch Englisch aber nicht kompliziert, gestattet sehr flexibel die Bolusberechnung.

    Die Zeiten, da ich nachts schweißgebadet vor dem Kühlschrank gelegen habe sind vorbei, die berechnete Insulinmenge habe ich langsam weiter reduziert, nicht drastisch aber immerhin.

    Ein m.E. wichtiges „Medikament“ sollte ich noch erwähnen, die Bewegung, jeder nach seinen Möglichkeiten. Vorteil: Bewegung ist rezeptfrei, kostet nichts und ist überall verfügbar.

    Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s