Gestern habe ich ein Leben gerettet. Klingt unglaublich, aber das trifft es tatsächlich irgendwie. Denn ich habe einem Typ-1-Diabetiker, der seit vielen Jahren auf der Straße lebt und mittlerweile aus sämtlichen sozialen Sicherungssytemen herausgerutscht ist, gestern 10 Fertigpens Lantus organisiert. Und zwar, nachdem er am Morgen den letzten Tropfen Insulin gespritzt hatte und ganz ohne das lebenswichtige Medikament dastand.
Manche von euch erinnern sich vielleicht noch an mein Portrait von Lyndon Owen, dem britischen IT-Experten, der vor ca. 15 Jahren beschloss, aus seinem „normalen“ Leben mit Job, Wohnung in London und geregelter sozialer Absicherung auszusteigen und in Europa herumzureisen. Und zwar mit Typ-1-Diabetes. Ich war neugierig darauf, wie das geht – auf der Straße leben, ohne geregelte Verhältnisse und ohne regelmäßige Arztbesuche sowie Rezepte für Blutzuckerteststreifen und Insulin. Seit ich ihn 2014 für mein Portrait einen Tag lang in Berlin begleitet habe, bin ich auf Facebook mit ihm befreundet und verfolge immer mal, wo er und sein Begleiter José sich gerade herumtreiben.
Eigentlich können NHS-Versicherte überall in Europa zum Arzt gehen
Vor ein paar Tagen war in Lyndons Timeline zu lesen, dass sein Insulin zur Neige geht und dass er keine Möglichkeit hat, sich neues zu besorgen. Das wunderte mich ein wenig, denn seinerzeit hatte er mit erzählt, dass er als britischer Staatsangehöriger über den dortigen NHS krankenversichert ist und überall in Europa zum Arzt gehen und sich Rezepte ausstellen lassen kann, sodass die Insulinversorgung eigentlich immer gesichert sein sollte. Ich konnte nicht nachvollziehen, warum das auf einmal nicht mehr funktionieren sollte, sah aus der Ferne aber auch leider keine Möglichkeit zu helfen, da Lyndon auf Facebook Madrid als seinen aktuellen Standort angegeben hatte.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort um zu helfen
Ich meinerseits war in den vergangenen Tagen in Lissabon beim Kongress der Europäischen Diabetesgesellschaft EASD. Und nachdem ich ein paar Bilder aus der portugiesischen Hauptstadt auf Facebook hochgeladen hatte, fand ich darunter auf einmal einen Kommentar von Lyndon, der vorschlug, sich doch auf ein Bier in der Bar xy zu treffen. „Bist du etwa in Lissabon?“ fragte ich ihn daraufhin, und: „Immer noch ohne Insulin?“ Seine Antwort auf beide Fragen lautete Ja. Das war am Mittwochabend. Ich saß gerade in einem Restaurant auf dem Platz Martim Moniz und aß bei Livemusik gemütlich zu Abend. Ich hatte mein Tagespensum abgearbeitet, für Donnerstag stand eine einzige Vortragssitzung von 8:30 bis 10:00 an. Danach hatte ich ein bisschen Zeit, in der ich vor meinem Abflug um 18 Uhr die Stadt erkunden wollte. Oder eben Zeit genug, um einem anderen Typ-1-Diabetiker meine Reserveampulle Lantus zu bringen. Doch da immerhin der weltgrößte Diabeteskongress und mit ihm unzählige Pharmafirmen und auch andere Mitglieder der Diabetes-Community in der Stadt waren, sollte es doch wohl möglich sein, ein bisschen mehr als nur meine Reserveampulle Insulin aufzutreiben.
Basalinsulin ist ja wohl das allermindeste, das ein Typ-1-Diabetiker haben muss
Glücklicherweise tummeln sich alle Blogger und anderen Diabetes-Aktivisten, die von Roche Diabetes Care zum #DiabetesMeetup nach Lissabon eingeladen wurden (einen ersten Blogbeitrag darüber gibt es bei Sassi von Diafeelings), in einer gemeinsamen Facebook-Gruppe. Viele waren zwar schon direkt nach dem Roche-Event abgereist, doch etliche waren eben noch in der Stadt. „Hat jemand von euch Diapeeps, die noch in Lissabon sind, ein paar Ampullen Insulin übrig für einen Typ-1-Diabetiker, der sonst auf dem Trockenen steht? Gesucht wird Langzeitinsulin, am besten Lantus“, fragte ich also in die Runde. Ich sollte wohl erwähnen, dass Lyndon eine sehr… hmm… eigenwillige Form des Diabetesmanagements praktiziert. Denn seit er auf der Straße lebt und in der Welt herumtingelt, misst er seinen Blutzucker überhaupt nicht und spritzt ausschließlich Basalinsulin (Lantus), auch zu den Mahlzeiten. Dabei nutzt er ein selbstausgedachtes und mir völlig unverständliches Schema, das jedem Diabetologen und jedem braven Typ-1-Diabetiker den kalten Schweiß auf die Stirn treiben dürfte. Zur Nachahmung absolut nicht empfohlen, don’t try this at home. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Lyndon sich mit dieser Form des Diabetesmanagements keinen Gefallen tut und über kurz oder lang massive gesundheitliche Probleme entwickeln wird. Aber wer bin ich, um über die bewussten Entscheidungen anderer zu richten? Wenn er schon auf Blutzuckermessungen und Bolusinsulin verzichtet, dann sollte er wenigstens das absolute Minimum haben – und das heißt in diesem Falle Lantus. Ohne Basalinsulin ist bei Typ-1-Diabetes schließlich alles ziemlich schnell vorbei.
Yeah, auf die Diabetes-Community ist Verlass!
Ich hatte Glück. Kurz nachdem ich mein Anliegen in der Facebook-Gruppe gepostet hatte, meldete sich mit Alexandra Costa eine portugiesische Bloggerin und bot an, mir am Donnerstagmorgen Lantus mitzubringen. Super! Auf die Diabetes-Community ist Verlass. Ich beschloss, trotzdem auch bei den Pharmariesen in der Industrieausstellung mein Glück zu versuchen und noch ein bisschen mehr Insulin zu organisieren. Immerhin werden auf so einem Kongress alle Insuline rauf und runter beworben, da sollten doch ein paar Ampullen für einen Diabetiker in Not übrig sein, oder? Dazu noch ein paar Pennadeln, damit Lyndon die Chance hat, ab und zu mal die Kanüle zu wechseln.
Sanofi hätte mir Insulin gegeben – doch es gab nur Demo-Pens mit Toujeo
Leider hatte ich bei Sanofi, dem Hersteller von Lantus, kein Glück: „Wir haben nur ein paar Demo-Pens mit Toujeo hier am Stand“, erklärte mir die Dame am Stand, Lantus wird als altbewährtes und allgegenwärtiges Basalinsulin offenbar gar nicht mehr beworben. Immerhin hatte ich den Eindruck, dass man mir dort durchaus Insulin ausgehändigt hätte – wohl, weil man mich für eine Ärztin hielt, die sich um einen Patienten sorgt. Und dieses Missverständnis hätte ich mit Sicherheit auch nicht aufgeklärt, wenn es mir unbürokratisch zu Insulin verholfen hätte. Trotzdem schade. Umso besser, dass Alexandra die sagenhafte Menge von 10 Fertigpens Lantus organisieren konnte, die ich zufrieden in meinen Rucksack packte.
Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen… ähh in der Industrieausstellung
In Sachen Pennadeln erkundigte ich mich zuerst am Stand von Roche Diabetes Care, denn ich erinnerte mich, dass ich in den vergangenen Tagen etliche Pressemitteilungen erhalten hatte, in denen von neuen Pennadeln die Rede war, die Roche just auf den Markt gebracht hat und nun promotet. Da sollte es doch Muster zum Mitnehmen am Messestand geben? Leider Fehlanzeige: „Diese Pennadeln sind nur in Deutschland auf den Markt gekommen, deshalb bewerben wir sie hier auf dem europäischen Kongress gar nicht“, erfuhr ich. Einen Stand von BD, die Pennadeln herstellen und eigentlich auf jedem Diabeteskongress gern jedem Standbesucher eine Handvoll davon mitgeben, suchte ich in der Industrieausstellung beim EASD-Kongress leider vergeblich. Also ein Versuch bei Novo Nordisk, an deren Stand ich eine Mitarbeiterin beobachtet hatte, wie sie interessierten Messebesuchern die Handhabung des Novo FlexPens erläuterte – mit echten Pennadeln selbstredend. Davon mussten doch ein paar Handvoll in der Schublade schlummern? Leider klärte mich die Dame am Stand mit strengem Blick darüber auf, dass man derartige Materialien aus „gesetzlichen Gründen“ grundsätzlich nicht auf Messen herausgeben dürfe. Aha. Nun, das kenne ich von Firma BD zwar grundsätzlich ganz anders, aber BD war nun einmal nicht vor Ort. Sascha von Sugartweaks, der mir in der großen Halle begegnete, hatte dann die rettende Idee, am Stand von Ypsomed nachzufragen. Und siehe da: Als ich dort mein Sprüchlein vortrug, griff die Standmitarbeiterin gleich mehrfach tief in ihre Schublade und zauberte unzählige Mustertütchen mit je 3 oder 4 Pennadeln hervor. Geht doch.

Und vielen Dank an Ypsomed für ein paar ordentliche Handvoll Mustertütchen mit Pennadeln! Damit hatte ich dann beinahe einen ganzen Rucksack voller Beute…
Wie kommt es, dass Lyndon in Portugal keinen Zugang zu Insulin hat?
Mir blieben nun ein paar Stunden, um meine Beute zu Lyndon in die Rua do Carmo zu bringen, wo er mit José derzeit seinem Bettel-Business nachgeht, und dabei coole Karma-Punkte zu sammeln. Die beiden saßen wie seinerzeit bei unserer ersten Begegnung auf dem Gehsteig, vor sich die altbekannten Schilder mit den Aufschriften „Für mehr Bier“, „Für mehr Whisky“, „Für den Kater am Morgen“ und „Immerhin sind wir ehrlich“, die sie je nach Reiseland in verschiedenen Sprachen anfertigen und vor sich aufstellen. Lyndon freute sich sehr über das Insulin und erzählte mir, warum es für ihn schwierig geworden ist, Zugang zu Gesundheitsversorgung zu bekommen. Normalerweise ist er als britischer Staatsangehöriger automatisch über die staatliche Gesundheitsorganisation NHS versichert und kann auch im europäischen Ausland Leistungen in Anspruch nehmen. Doch in Portugal erfordert dies die Vorlage eines Lichtbildausweises wie einen Pass oder einen Führerschein. Beides hat Lyndon nicht (mehr), aus Gründen, die er mir nicht näher erklären konnte oder mochte.
Nach Jahren auf der Straße ist Lyndon bei den Behörden quasi nicht mehr existent
Und da er schon seit sehr vielen Jahren auf der Straße lebt, kann er auch nicht mehr einfach in die britische Botschaft spazieren, um sich dort ein Ersatzdokument ausstellen zu lassen – es ist schlicht unwahrscheinlich, dass man ihn dort den einstmals über ihn gespeicherten Daten und Fotos zweifelsfrei zuordnen kann, weil er nicht mehr in Kontakt mit britischen Behörden ist und sich in der Zwischenzeit optisch natürlich sehr verändert hat. Und so rutscht er mehr und mehr aus dem System hinaus und wird zu einer Person, die offiziell gar nicht mehr existiert. Dieser Umstand scheint ihn als solches nicht sonderlich zu belasten – doch was die medizinische Versorgung angeht, ist er natürlich fatal. „Wenn ich direkt zu einem Arzt gehen könnte, dann würde er mich sicher behandeln und mir Rezepte ausstellen. Doch man muss in jeder Einrichtung ja erst einmal an den Angestellten an der Rezeption vorbei, und die lassen einen ohne Lichtbildausweis nicht bis zum Arzt durch“, erklärte er mir, „ich könnte höchstens in die Notaufnahme spazieren und sagen, dass ich dringend Insulin brauche, dort würde man es mir vermutlich nicht verweigern.“
Ich reise mit Netz und doppeltem Boden – er spritzt den letzten Tropfen Insulin
Doch in der Notaufnahme war er noch nicht gewesen: „Ich habe in den letzten paar Tagen sehr wenig gegessen, damit ich mit weniger Insulin zurecht komme“, erzählte er mir, „doch heute morgen war mein Insulinpen mit Lantus dann tatsächlich leer.“ Mir lief ein kleiner Schauer über den Rücken, so unvorstellbar war das für mich. Ich selbst war für eine Reise von ein paar Tagen nach Lissabon mit Netz und doppeltem Boden aufgebrochen und hatte einen Ersatzsensor für mein Freestyle Libre, Ersatzampullen Insulin von jeder Sorte, Blutzuckermessstreifen und massenweise Pennadeln mitgenommen, nur um in jeder denkbaren Situation auf der ganz sicheren Seite zu sein. Und da saß vor mir ein anderer Typ-1-Diabetiker, der einfach so sein letztes Insulin aufgebraucht hatte und ohne meine Nachlieferung auch nicht so schnell neues bekommen hätte. Ich fühlte mich ein bisschen wie Superwoman, die gerade ein Leben gerettet hat. Was möglicherweise auch nicht völlig abwegig ist.

Als Platin-Sponsor habe ich zwei von den farbigen Visitenkarten der Lazy Beggars bekommen… 🙂
Eine Runde Mitbetteln, Spazieren und die Altstadt erkunden
Eine Weile hockte ich am Donnerstag Nachmittag also neben den beiden und half beim Betteln – eine abermals sehr interessante Erfahrung, weil die Leute sehr überrascht schauen, wenn eine ordentlich gekleidete und gekämmte Frau mit heilen Zähnen zusammen mit zwei Bettlern auf der Straße sitzt. Dann zogen Lyndon und ich noch ein wenig umher, und er zeigte mir ein wenig von „seinem“ Lissabon. Die beiden Lazy Beggars sitzen üblicherweise an Straßen, in denen viele Passanten und Touristen flanieren. Und so gelangten wir nach wenigen Schritten zum freistehenden Lift aus Gusseisen (Elevador de Santa Justa), vor dem sich lange Touristenschlangen bilden, die gegen teures Geld hinauffahren, um das Panorama auf die Altstadt zu genießen. Lyndon zeigte mir den Weg an einer Ruine vorbei und ein paar Treppen hinauf, die ohne Menschenschlange und ohne Eintrittskarte zu eben derselben Aussichtsplattform führen. Dort oben über der Altstadt, unter freiem Himmel befindet sich auch das Badezimmer der beiden Lazy Beggars: ein Bassin, das ständig mit fließendem Wasser befüllt wird und in dem die beiden gern morgens vor „Arbeitsbeginn“ ein Bad nehmen. „Es hat sich noch nie jemand daran gestört, dass wir uns hier ausziehen, baden und dann in frische Klamotten schlüpfen“, meinte er. Überhaupt mag er Lissabon unter anderem deshalb, weil es Bettlern und Straßenkünstlern gegenüber eine ziemlich tolerante Haltung zeigt. Auch mir war schon aufgefallen, dass z. B. Graffiti allgegenwärtig sind und offenbar weitgehend toleriert werden.
Und so hat mir meine kleine spontane Rettungsaktion dann auch noch Einblicke in ein anderes Lissabon verschafft, die ich ansonsten wohl eher nicht gehabt hätte.
Ich habe den EASD-Kongress in Lissabon auf Einladung von Firma Roche Diabetes Care besucht, die meine Kosten für den Flug und drei Hotelübernachtungen übernommen hat. Mein Blogbeitrag spiegelt meine eigene, vom Gastgeber unbeeinflusste Meinung wider.
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15. November 2017 um 19:26
Danke für‘s Helfen. Toll!
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21. September 2017 um 16:49
Hej Antje!
Was für ein ergreifender, trauriger und gleichzeitig schöner Artikel! Er sollte uns einmal mehr bewusst machen, wie gut es uns hier doch geht…
LG Tina
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