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Tod eines Kindes mit Typ-1-Diabetes während der Klassenfahrt: Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Lehrkräfte

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Es gibt Recherchen, die ich nicht so einfach wegstecken kann. So ging es mir bei dieser Geschichte, die ich im Auftrag der Diabetes Zeitung recherchiert und aufgeschrieben habe. Wie interviewt man einen Mann, der vor ein paar Monaten seine Tochter verloren hat? Wir formuliert man Nachfragen zu den Dingen, die einem auf den ersten Blick komisch vorkommen? Ich hatte Herzklopfen, als ich zum vereinbarten Termin die Nummer seiner Anwältin wählte, die bei unserem Gespräch dabei war.

Wäre ich Raucherin, hätte ich nach dem Telefonat mit Kay Schierwagen und seiner Anwältin erstmal eine Zigarette gebraucht. Ich hatte von ihm zwar plausible Antworten auf alle meine Fragen bekommen, ohne dabei in irgendwelche Fettnäpfchen zu tappen und ihn unnötig psychisch zu belasten. Doch emotional hatte mich das Gespräch sehr aufgewühlt. Für den Rest des Tages war ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Denn was Kay Schierwagen den Lehrkräften der Theo-Hespers-Gesamtschule in Mönchengladbach vorwirft, klingt so ungeheuerlich, dass man es zunächst kaum glauben mag. Seine 13-jährige Tochter Emily, die seit ihrem 6. Lebensjahr Typ-1-Diabetes hatte, ist Ende Juni 2019 von einer dreitägigen Klassenfahrt nach London nicht lebend zurückgekehrt. Kay Schierwagen beschuldigt die begleitenden Lehrkräfte, sich nicht um sie gekümmert zu haben – obwohl Mitschülerinnen und Mitschüler des Mädchens sie mehrfach darauf hingewiesen hatten, dass es Emily nicht gut ging. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung.

Es gab keinen Bedarf für Schulbegleitung oder Integrationshilfe

„Emily wusste sehr gut Bescheid über ihren Diabetes, auf früheren Klassenfahrten hatte es nie Probleme gegeben“, erzählt der Vater. Im Elisabeth-Krankenhaus in Mönchengladbach, wo das Mädchen diabetologisch betreut wurde, habe sie als Vorzeigepatientin gegolten. In der Schule sei ihr Typ-1-Diabetes natürlich bekannt gewesen. Da Emily ihre Erkrankung seit geraumer Zeit zuverlässig und eigenverantwortlich managte, habe es keine Notwendigkeit für Schulbegleitung oder Integrationshilfe gegeben. „Wir mussten uns nie Sorgen um sie machen. Sie war selbstbewusst, hat sich nicht für ihren Diabetes geschämt und ohne Zögern überall ihre Insulinpumpe herausgeholt“, betont Kay Schierwagen.

Schon am Ankunftstag starke Übelkeit und Erbrechen

Was sich bei der Klassenfahrt in London zugetragen und zum Tod seiner Tochter geführt hat, kann sich Kay Schierwagen bislang nur bruchstückhaft aus den Erzählungen der Mitschülerinnen und Mitschüler zusammenreimen. Die Lehrkräfte hätten kein einziges mal mit ihm gesprochen. „Nach der Ankunft am Donnerstag waren die Kinder zum Essen beim Chinesen. Zu diesem Zeitpunkt ging es Emily schon nicht gut“, berichtete mir der Vater. Zurück in der Unterkunft, habe seine Tochter über starke Übelkeit geklagt und sich erbrochen. Sie habe ihre Insulinpumpe abgekoppelt, um duschen zu gehen. Nach dem Duschen habe ihr Blutzuckerwert bei über 300 mg/dL gelegen. Weil sie bereits nicht mehr Herr ihrer Sinne gewesen sei, habe sie ihre Pumpe nicht mehr ankoppeln können – und sei ab diesem Zeitpunkt ohne Insulin gewesen. Die anderen Kinder hätten vergeblich nach den Lehrkräften gesucht. „Emily hat sich weiterhin erbrochen und gekrümmt. Ihre Freundinnen haben sie gewaschen, ihre Haare gesäubert und auf sie aufgepasst“, sagt Kay Schierwagen. Auch am nächsten Tag, als die Gruppe zu einem Ausflug aufbrechen wollte, habe niemand nach seiner Tochter gesehen. „Die zuständige Lehrerin wies einfach zwei Mädchen an, bei der kranken Emily zu bleiben.“

Das Mädchen war zu lange ohne Insulin gewesen

Erst am Samstagvormittag, als sich der Abreisetermin näherte, sei die Lehrerin zu Emily gekommen und habe bemerkt, wie es um das Mädchen stand. Emily habe sich nicht mehr allein aufrichten können und sei mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht worden, wo ein Blutzuckerwert von 1470 mg/dL gemessen wurde. Die eilends verständigten Eltern reisten schnellstmöglich nach London. „Samstag Nacht war Emily noch einmal kurz bei Bewusstsein, da habe ich mit ihr sprechen können“, erinnert sich der Vater. „Doch sie war zu lange ohne Insulin gewesen. Am Sonntag, den 30. Juni um 14 Uhr ist meine Emily gestorben.“

Schulbüro verweist bei Presseanfragen auf die Bezirksregierung

Wie die beschuldigten Lehrkräfte die Klassenfahrt und den Tod von Emily erlebt haben, ist derzeit nicht herauszubekommen. Das Medieninteresse an dem tragischen Ereignis war in den vergangenen Monaten enorm, neben Regionalzeitungen berichteten auch TV-Sender, BILD-Zeitung und überregionale Medien über den Fall. Daraufhin veröffentlichte die Schule eine Mitteilung auf ihrer Homepage, in der sie sich gegen die „unfaire Berichterstattung“ wehrte und eine „sachgerechte Berichterstattung ohne unbegründete Schuldzuweisungen“ forderte . Doch bei Presseanfragen verweist das Schulbüro lediglich auf die Bezirksregierung.

Screenshot Theo-Hespers-Gesamtschule

Screenshot von der Startseite der Homepage der Schule, Datum 11. Oktober 2019

Die Bezirksregierung Düsseldorf als zuständige Behörde wiederum äußerte sich mir gegenüber – mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen – schriftlich und auch nur vage: Die Ursache des Todes der Schülerin sei bislang unbekannt, „insbesondere ist bislang nicht geklärt, ob die Diabetes-Erkrankung der Schülerin für den Tod (mit)ursächlich war“, sagt eine Behördensprecherin. Es liege ein interner Bericht der Schulleitung sowie der Lehrkräfte vor. Die Schule werde von der Bezirksregierung unterstützt und beraten, um den Schulbetrieb möglichst aufrecht zu erhalten. „Die Schulleitung hat umgehend den schulpsychologischen Dienst hinzugezogen, welcher allen Mitgliedern der Schulgemeinde seit dem tragischen Tod der Schülerin hilft.“

Ein abendlicher Rundgang ist bei einer Klassenfahrt das Mindeste

Dennoch wüsste ich natürlich gern, wie eine Lehrerin über den Fall denkt. Wie läuft das im Unterricht und vor allem bei Klassenfahrten mit Kindern mit Typ-1-Diabetes? Was müssen Lehrkräfte hier leisten? Und was wäre zuviel verlangt? Zum Glück habe ich eine Schwester, Julia Götz, die als Gymnasiallehrerin im nordrhein-westfälischen Münster arbeitet. Sie ist mit dem Fall zwar nicht persönlich vertraut, betreut im Sportunterricht aber selbst auch Kinder mit chronischen Erkrankungen wie Typ-1-Diabetes. Und sie fand deutliche Worte: „Wenn es sich so zugetragen hat wie Emilys Vater berichtet, dann haben die Lehrkräfte ihre Aufsichtspflicht katastrophal vernachlässigt“, meinte sie. Auf Klassenfahrten müssten Lehrkräfte zumindest abends einmal einen Rundgang machen und schauen, ob alle Kinder in ihren Zimmern sind. „Und wenn ich weiß, dass ich ein Kind mit einer chronischen Erkrankung dabeihabe, dann frage ich von mir aus immer mal nach, ob alles in Ordnung ist. Bei einer Klassenfahrt läuft ja nicht alles in gewohnten Bahnen wie zu Hause – und als Lehrerin bin ich in dieser Zeit doch die erwachsene Bezugsperson und trage Verantwortung!“, sagte meine Schwester.

Bei Klassenfahrten läuft vieles anders als im Alltag

So sah es auch Martina Lösch-Binder, Diabetesberaterin an der Kinderklinik Tübingen, die ich ebenfalls nach ihrer Einschätzung fragte. „Bei einer Klassenfahrt gibt es anderes Essen und einen ganz anderen Tagesablauf. Das Kind schläft im Mehrbettzimmer mit einer Handvoll Freundinnen statt zu Hause, wo der Tagesablauf strukturiert ist und die Eltern nachfragen, ob es auch wirklich den Blutzucker gemessen und Insulin gespritzt hat.“ Es sei deshalb wichtig, dass das betroffene Kind und seine Lehrkräfte die Eltern jederzeit erreichen könnten. „Allerdings gilt gerade in den 7. und 8. Klassen auf Klassenfahrten häufig ein striktes Handyverbot, weil die Kinder sonst nur chatten und spielen würden“, berichtet Martina Lösch-Binder. Die Diabetesberaterin versucht im Vorfeld von Klassenfahrten deshalb, möglichst nicht nur das betroffene Kind, sondern auch Lehrkräfte und Mitschüler zu schulen und aufzuklären. Alternativ könne man ihnen beispielsweise die Schulungsunterlagen der Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie (AGDB) mitgeben. In dieser PDF-Datei von 20 Seiten wird kurz und knapp vermittelt, was Lehrkräfte über Kinder mit Typ-1-Diabetes wissen müssen.

Große Wissenslücken beim Thema Ketoazidose

Allerdings liegt in den gängigen Informationsmaterialien der Fokus auf der Vermeidung von Hypoglykämien als häufigste Komplikation des Typ-1-Diabetes. Für Prof. Thomas Haak, Chefarzt am Diabetes Zentrums Mergentheim, ist dies ein Problem: „Eine Ketoazidose als gefährliche Komplikation des Typ-1-Diabetes ist Lehrkräften kaum bekannt.“ Dabei könne es zum Beispiel bei technischen Defekten an der Insulinpumpe schnell zu einer Unterbrechung der Insulinzufuhr und in der Folge zu einer gefährlichen Überzuckerung kommen. „Auch Menschen mit Diabetes haben eine Ketoazidose nicht immer auf dem Schirm. Sie haben in ihrer ersten Schulung davon gehört, sind danach aber meist nicht wieder mit dem Thema in Berührung gekommen.“ Angesichts dieser weit verbreiteten Wissenslücken könne man von Lehrkräften kaum erwarten, dass sie die Leitsymptome einer Ketoazidose – Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen – immer korrekt einschätzen. „Allerdings müssen sie im medizinischen Notfall natürlich Erste Hilfe leisten und ärztliche Hilfe für das betroffene Kind holen“, betonte Prof. Haak mit Blick auf den aktuellen Fall.

Verletzung der Aufsichtspflicht = fahrlässige Tötung durch Unterlassung?

Rechtsanwalt Oliver Ebert, Vorsitzender des Ausschuss Soziales der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, der auch in seiner Kanzlei viele Eltern von Kindern mit Diabetes berät, ergänzte hierzu: „Der vorliegende Sachverhalt deutet auf eine grobe Verletzung der Aufsichtspflicht hin. Diese besteht gegenüber allen Kindern, unabhängig davon, ob ein Kind gesund ist oder eine Krankheit wie Diabetes hat.“ Lehrkräfte hätten gegenüber Schülerinnen und Schülern eine sogenannte Garantenstellung, die sie verpflichtet, die Kinder in zumutbarem Rahmen zu beaufsichtigen und vor Gefahren zu schützen. Daher sei im Fall der verstorbenen Emily – sollten sich die Vorwürfe bestätigen – auch der Straftatbestand der fahrlässigen Tötung durch Unterlassung denkbar.

Prozessbeginn möglicherweise im Frühjahr 2020

Noch dauern die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Mönchengladbach an. Nach Auskunft ihres Sprechers Jan Steils wurde die Ermittlungsakte an die Polizei versandt, die weitere Zeugenaussagen einholen soll. „Es wird noch geprüft, ob und mit welchem Tatvorwurf Anklage erhoben wird.“ Eine fahrlässige Tötung könne nach § 222 Strafgesetzbuch mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft werden. Kay Schierwagens Anwältin geht davon aus, dass frühestens Ende 2019 eine Anklageschrift vorliegen wird. Mit einem Prozessbeginn sei dann im Frühjahr 2020 zu rechnen. Der Weg dorthin kostet den Vater der verstorbenen Emily enorm viel Kraft: „Doch ich will endlich erfahren, was dort in London genau passiert ist – und dass so etwas nie wieder geschieht. An Diabetes stirbt man doch heutzutage nicht – nur, wenn einem nicht geholfen wird!“

6 Kommentare zu “Tod eines Kindes mit Typ-1-Diabetes während der Klassenfahrt: Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Lehrkräfte

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  3. Ich frage mich, ob es im Zeitalter des Handys nicht irgendwann ein Kontakt zu den Eltern gab? Entweder durch Emily selbst oder ihrer Mitschüler. Da sind wohl einige Fragen offen. Ich finde es absolut fahrlässig nicht kurz per WhatsApp mal nachzufragen wie es auf der Klassenfahrt läuft. Es sei denn eine andere Bezugsperson ist dediziert beauftragt, sich darum zu kümmern oder die Emily hat darauf bestanden es immer alleine zu managen. Ebenso hätte ich die Lehrkräfte gebrieft mit mir zu reden, falls etwas ungewöhnlich erscheint. Auch die Therapie im Zeitalter des Familiensharings von App-Daten (Libre kann meine BZ Werte an meine Frau senden), hätte angepasst werden können. Das Ganze hat so viele seltsame Ungereimtheiten oder anders und vielleicht zu hart gesagt: was im Elternhaus nicht funktioniert, kann nicht von der Schule aufgefangen werden.

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  4. Das ist so krass und traurig was passiert ist. 😢
    Hoffentlich kann das Geschehen restlos aufgeklärt werden.

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