… und mit welchen Tricks ich mich persönlich über die kulinarischen Tücken der Feiertage gerettet habe.
Weihnachten mit Diabetes – das ist ein Thema, das scheinbar ordentlich Potenzial zum Polarisieren bereithält. Damit meine ich nicht einmal unbedingt diese wohlmeinenden (?), aber unwissenden Mitmenschen, die uns mit erhobenem Zeigefinger erklären, um welche Lebensmittel Menschen mit Diabetes unbedingt einen Bogen machen sollten. Sondern meine Beobachtung, dass wir uns auch innerhalb der Diabetes-Community alles andere als einig sind, ob die Weihnachtszeit nun eine besondere Herausforderung für Menschen mit Diabetes ist – oder man ihr wie allen anderen Tagen auch begegnen sollte, an denen wir nun einmal Kohlenhydrate und Insulineinheiten austarieren müssen.
Mir sind in den vergangenen Wochen in den sozialen Medien die unterschiedlichsten Facetten begegnet. Manche Leute fangen schon weit vor Beginn der weihnachtlichen Hauptkampfsaison an, sich um ihre Zeit im Zielbereich, Insulinempfindlichkeit und Korrekturfaktoren während der Feiertage zu sorgen. Demgegenüber gibt es die Fraktion derer, die mit stoischer Gelassenheit verkünden: „Wozu die ganze Aufregung? Einfach wie immer Kohlenhydrate berechnen und Insulin dosieren! Wer sein Handwerk beherrscht, kriegt auch Weihnachten hin!“ Für mich liegt die Wahrheit wie so oft irgendwo dazwischen.
Ich habe mich in der Weihnachtszeit von meinem Diabetes nicht allzu sehr stressen lassen – fand die Festmahle aber doch deutlich herausfordernder als das Essen in meinem normalen Alltag. Hier präsentiere ich euch meine fünf Gründe, warum Weihnachten mit Diabetes für mich eben nicht ganz ohne ist – und wie ich mich persönlich dann doch halbwegs entspannt über die Feiertage gerettet habe.
- Späteres Frühstück als sonst. Vom 20. Dezember bis zum 1. Januar haben Christoph und ich Urlaub. Während sich unser Schlaf-Wach-Rhythmus an einem normalen Wochenende gegenüber einer Arbeitswoche nicht groß verändert, machen sich zwei Wochen ohne Weckerklingeln dann doch bemerkbar. Statt umd 6:30 Uhr frühstücken wir nun eher gegen 10 Uhr, gemütlich und in aller Ruhe. Ich genieße das sehr – doch beim Spritz-Ess-Abstand habe ich mich in den vergangenen Tagen immer wieder ordentlich verhauen. Mal habe ich zu früh, mal zu spät mit dem Essen angefangen. Für die Nahrungsaufnahme um 6:30 Uhr kenne ich die Vorlieben meines Diabetes ziemlich gut – beim Frühstück um 10 Uhr ist es jedes Mal ein bisschen Roulette.
- Zwischendurch Naschen. Ich habe am vierten Advent noch einen Rappel bekommen und fünf Sorten Weihnachtsgebäck gebacken. Schließlich hatten wir vom 23. bis zum 26. Dezember Besuch von meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Sohn, die ich mit Selbstgebackenem verwöhnen wollte. Schon beim Backen ertappte ich mich dabei, immer mal ein wenig Keksteig zu naschen. Und wenn die fertigen Kekse auf der Etagere liegen, greife ich auch schnell mal im Vorbeigehen zu. Meist mit dem naiven Gedanken „Ach, so eine winzige Menge wird der Zucker schon nicht bemerken!“ Er merkt es natürlich doch, wenn gleich mit gehöriger Verzögerung, weil die Kekse mit ordentlich Butter den Blutzucker oft erst anderthalb Stunden später so richtig in die Höhe treiben. Dabei immer den Überblick zu behalten, ist ziemliches Glücksspiel.
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit klafft in der Optik manchmal eine gewisse Lücke… 🙂
3. Ausgedehnte Mahlzeiten. Bei uns gab es an Heiligabend Fleischfondue mit diversen Salaten und Dips als Beilagen. Zum Nachtisch rote Grütze mit Vanillesoße. Die gesamte Prozedur der Nahrungsaufnahme – begleitet von erst einem Sekt und dann etlichen Gläsern Rotwein – zog sich über gut drei Stunden hin. Wie und vor allem wann wirken sich Baguette, Rote Bete-Salat, Chutney, die Fett-Protein-Einheiten aus dem Fleisch und das Dessert auf meinen Blutzucker aus? Schwer vorherzusagen! Da ich ohne Insulinpumpe keinen verzögerten Bolus spritzen kann, muss ich pi mal Daumen zu Beginn des Essens ein paar Einheiten abfeuern und nach einer Weile nachlegen. Präzisionsmedizin geht anders.

Es kann losgehen! So ein Fleischfondue erstreckt sich gern mal über drei Stunden!
4. Ungewohnte Nahrungsmittel. Am ersten Weihnachtstag haben wir uns alle zusammen ein wirklich fürstliches Festtagsmenü gezaubert. Als Vorspeise gab es eine Maronen-Cremesuppe, zum Hauptgang einen Braten aus der Damwildkeule mit Rotkohl und Semmelknödeln, als Dessert Apfelrosen im Blätterteig. Alles selbstgemacht, wohlgemerkt. Eine Maronen-Cremesuppe hatte ich zuvor überhaupt noch nie gegessen und damit nicht den geringsten Schimmer, wie sich Maronen (41 Gramm Kohlenhydrate pro 100 Gramm) auf meinen Blutzucker auswirken. Semmelknödel liebe ich wirklich sehr, doch ich esse sie eher selten – auch hier ist es schwierig, die Blutzuckerwirkung vorherzusehen. Und die Kohlenhydrate im Dessert (schnellwirksame im Apfel und der Aprikosenkonfitüre, langwirksame im Blätterteig) sind ebenfalls schwer einzuschätzen. Hallo Casino, ich setze alles auf die Sieben!

Maronen-Cremesuppe, Braten aus der Damwildkeule mit Rotkraut und Semmelknödeln, Apfelrose in Blätterteig – diese Kombi bringt auch den kaltblütigsten Diabetes in Wallung!
5. Unklare Mengenangaben. Unser Rezept für Semmelknödel stammt von meiner Mama und geht ungefähr so: Man braucht viele altbackene Brötchen, ein paar Zwiebeln, Eier nach Bedarf und Milch je nach Konsistenz des Teigs. Mengenangaben? Fehlanzeige. So ist das eben mit alten Familienrezepten. Und selbst wenn es ein exaktes Rezept gäbe, wäre die genaue Insulindosierung immer noch eine enorme Herausforderung. Nehmen wir einmal an, ich wüsste im Vorfeld ganz genau, dass in dem Semmelknödelteig 20 Brötchen, 6 Eier, 1 Liter Milch, 50 Gramm Butter und 3 große Zwiebeln enthalten sind. Dann müsste ich immer noch kompliziert nach der hohen Kunst des diabetischen Dreisatzes ausrechnen, wie viele Kohlenhydrate das pro Kloß für mich ergibt. Bis ich die Kohlenhydrate für Vorspeise, Hauptgang und Dessert beisammen habe, ist das Essen kalt. Also heißt es auch an dieser Front: Mal schauen, ob ich mit meiner Zahlenkombination den Jackpot knacke!
Diese fünf Faktoren haben mir die Weihnachtstage in Sachen Diabetes durchaus ein wenig erschwert. Und das, ganz ohne dass die liebe Verwandschaft blöde Sprüche à la „Darfst du das überhaupt essen mit deinem Diabetes?“ gerissen hätte. Ich habe die Feiertage trotzdem genossen und mir von meinem Diabetes nicht die Laune verderben lassen. Ja, meine Werte lagen nicht so super im Zielbereich als sonst, sondern – wenig überraschend – eher mal darüber. Doch so ein paar Ausreißer nach oben sind noch kein Grund zur Sorge, als „Musterschülerin“ kann ich mir das auch mal leisten. Vorsichtig dosieren, bei Bedarf Korrektur spritzen, Haken dran, weiterfeiern. Auch die akribische Fehleranalyse darf gern mal ausfallen, denn nächstes Jahr wird zu Weihnachten sowieso wieder was ganz anderes aufgetischt.
Ich habe auch keine Angst vor meinem nächsten Termin beim Diadoc Anfang Februar. Sollte er sich tatsächlich meine Glukosewerte um die Weihnachtstage genauer anschauen, wird vermutlich schmunzeln und sagen: „Ich freue mich, wenn ich bei Ihnen auch mal solche Kurven sehe. Dann sehe ich nämlich, dass Sie leben!“
30. Dezember 2019 um 20:38
Danke, Frau Thiel, für diesen Artikel. Sie haben wieder einmal das Leben mit Diabetes beschrieben, wie ich es in den letzten beiden Jahren kennengelernt habe. Weihnachtliche Leckereien habe ich auch in diesem Jahr ohne Einschränkungen genossen. Es ist halt erforderlich, Kohlenhydrate zu berücksichtigen und in Insulineinheiten umzurechnen. Unbequem und lästig einerseits, aber bei konsequenter Handhabung mach ich mir keine Sorgen um meine Blutzuckerwerte. Soweit meine eigenen Erfahrungen und mein Verständnis daraus zu diesem Thema. Meine Langzeitwerte liegen bei 6,3.
Womit ich mich allerdings schwertue, ist der Genuss alkoholischer Getränke. Da bin ich sehr vorsichtig und genieße höchstens mal ein Glas Rotwein. Habe aber dabei schon erlebt, dass trotz Genuss vieler KH (ohne Insulin zu spritzen) der Blutzucker im Normbereich blieb. Ich war unsicher, wie das ausgeht; aber die Entgleisung des Blutzuckers nach oben blieb aus.
Ihre Beiträge habe ich bisher mit großem Interesse verfolgt und darf mich sicher auch im neuen Jahr wieder auf weitere Beiträge von Ihnen freuen. Vielleicht ist mal einer dabei zum Thema „Insulin an den richtigen Stellen spritzen“. Wenn wenig Bauchfett vorhanden ist, bleibt nicht viel Platz.
Enen guten Rutsch, alles Gute und viel Erfolg für 2020.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Kothenschulte
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6. Januar 2020 um 13:06
Moin Herr Kothenschulte, vielen Dank für Ihren Kommentar und auch Ihnen alles Gute & Gesundheit für 2020! Ihren Themenvorschlag „Insulin an den richtigen Stellen spritzen“ bei wenig Bauchfett behalte ich gern im Hinterkopf – ich muss allerdings erst wieder (hallo, gute Vorsätze) etliche Kilos abspecken, bis das ein relevantes Problem für mich ist… 😉 Liebe Grüße, Antje Thiel
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