Man sollte ja meinen, dass in unserer modernen westlichen Zivilisation alle Menschen den gleichen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben und dass Bildung und Sozialstatus keine Rolle dabei spielen, ob jemand Diabetes bekommt und wie dieser Diabetes dann behandelt wird. Bei der DDG-Jahrestagung musste ich leider feststellen: Fehlanzeige! Und zwar sowohl im sozialen Schweden als auch bei uns in Deutschland.
„Egal, was Sie bislang über Chancengleichheit in Schweden gehört haben – in Bezug auf den Diabetes stimmt es einfach nicht.“ Mit diesen Worten eröffnete Prof. Sofia Gudbjörnsdottir von der Universität Göteborg eine Sitzung bei der DDG-Jahrestagung am 6. Mai 2016 in Berlin. Dazu muss man wissen, dass Daten aus Schweden in der Versorgungsforschung hohes Ansehen genießen, denn dort gibt es nationale Register, in welche die Gesundheitsdaten ausnahmslos aller Patienten einfließen. Wenn eine schwedische Versorgungsforscherin also radikal aufräumt mit sozialromantischer Bullerbü-Idylle, dann ist vermutlich etwas dran. Prof. Gudbjörnsdottir wirkte selbst ziemlich erschrocken, als sie verkündete, dass arme und weniger gebildete Typ-1-Diabetiker zwei- bis dreimal häufiger Herzinfarkte und Schlaganfälle als wohlhabendere und besser gebildete Typ-1-Diabetiker, weil ihnen ihr Diabetesmanagement weniger gut gelingt. Auch die Bereitschaft, eine Insulinpumpe zu benutzen, hängt offenbar mit dem Sozial- und Bildungsstatus zusammen. Die schwedische Forscherin vermutet, dass sich Menschen mit niedrigerem Bildungsstatus eher von dem Schulungsaufwand abschrecken lassen, der nun einmal mit einer Pumpe verbunden ist.
Mehr Typ-2-Diabetes-Erkrankungen bei weniger Gebildeten
Doch nicht nur in Schweden, sondern auch in Deutschland scheint es in Sachen Diabetes von Bedeutung zu sein, wie viel Geld man auf dem Konto hat und wie viel Bildung man genossen hat: Hierzulande gibt es zwar keine allumfassenden Register, doch am Robert Koch-Institut (RKI) hat man die Daten verschiedener Gesundheits-Surveys ausgewertet, die Dr. Christin Heidemann beim Kongress zusammenfasste. Und daraus geht hervor, dass Wohlstand und Bildung offenbar vor Typ-2-Diabetes schützen. Zahlen gefällig? Bei den Frauen mit geringer Bildung hatten zwölf Prozent einen bekannten Diabetes, bei Frauen mit mittlerem oder hohem Bildungsniveau lag die Quote hingegen nur bei gut vier Prozent. Bei Männern ist der Unterschied zwar nicht ganz so gravierend, aber ebenfalls erschreckend: Unter den Männern mit niedrigem Bildungsniveau lag der Anteil von Diabetikern bei gut zehn Prozent, bei mittlerem und hohen Bildungsniveau nur um die vier bzw. fünf Prozent.
„Wie soll das bloß jemand hinkriegen, der einfach ein bisschen dümmer ist?“
Ich musste in dieser Sitzung beim DDG-Kongress mehrfach daran denken, was mein Stiefvater regelmäßig äußert, wenn ich bei den Erklärungen zu meinem Diabetesmanagement mal ein bisschen in die Tiefe gehe. Wenn ich also über KE-Faktoren in Abhängigkeit von der Tageszeit, von Spritz-Ess-Abstand, glykämischem Index, Muskelauffülleffekt, FPE-Berechnung, verzögertem Bolus und dergleichen mehr spreche – all die Dinge eben, die einem gut geschulten Diabetiker den ganzen Tag über im Kopf herumschwirren und seine Entscheidungen beeinflussen. „Antje, wie soll das bloß jemand hinkriegen, der einfach ein bisschen dümmer ist als du?“, sagt er dann nachdenklich.

KE-Faktor, FPE-Berechnung, glykämischer Index – wer Diabetes hat, verbringt wohl oder übel viel Zeit mit Rechnen… (Foto: Pixabay)
Wo stünde ich heute, wenn ich ein anderes Elternhaus gehabt hätte?
Ich fürchte, dass da etwas dran ist. Zum Glück bin ich nicht auf den Kopf gefallen, doch ein paar ganz passable Intelligenzgene sind ja noch längst nicht alles. Ich bin darüber hinaus ohne materielle Sorgen in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem immer irgendwo Bücher und Zeitschriften herumlagen und wo Lesen selbstverständlich war. Ein Zuhause, das mich zu Bildung und Lernen ermuntert hat (auch wenn ich das als Kind sicher nicht immer als „Ermunterung“ empfunden habe). Ich hatte Lust, ein neues Musikinstrument zu lernen? Nur zu! Turnen? Reiten? Schüleraustausch in die USA? Studium in Hamburg? Alles kein Problem. Ich hatte also stets beste Voraussetzungen, mich auszuprobieren, an Neues heranzuwagen, meinen Horizont zu erweitern und zu lernen. Dieses Rüstzeug half mir natürlich auch, als ich im Alter von 40 Jahren die Diagnose Typ-1-Diabetes erhielt. Ich habe seither viel gelernt und lerne täglich weiter, wie ich mit meinem Diabetes umzugehen habe. Zum Glück gelingt mir das auch ziemlich gut, so dass ich vielleicht hoffen darf, von allzu bösen Diabetes-Folgeerkrankungen verschont zu bleiben. Doch wie wäre es mir ergangen, wenn ich ein weniger privilegiertes Elternhaus gehabt hätte? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dann auch in Sachen Diabetesmanagement deutlich schlechter dastehen würde. Und das finde ich ziemlich traurig.

In meinem Elternhaus wurde ich immer ermuntert, zu lernen und meinen Horizont zu erweitern – dieses Rüstzeug hilt auch beim Diabetesmanagement (Foto: Pixabay)
4. August 2016 um 19:49
Ich finde es schwierig, nur zwei Aspekte (Bildung/Diabetes) miteinander zu vergleichen. Spielen nicht immer mehr Faktoren eine Rolle? (Ernährung/Rauchen/Bewegung/Alkohol)
Ich habe neulich gelesen, dass Kinder, die per Kaiserschnitt geboren werden, ein erhöhtes Risiko für Typ I Diabetes haben. Mir wurde bei der Geburt meiner beiden Kinder ein Kaiserschnitt empfohlen, weil ich Diabetes Typ I habe. Vielleicht wird so ein Schuh draus und es ist so, dass die Kinder, die per Kaiserschnitt geboren werden, öfter Mütter mit Diabetes haben und deshalb ein größeres (erbliches) Risiko, es selbst zu bekommen?
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5. August 2016 um 10:13
Liebe Gundi, genau diese beiden Aspekte (Bildung/Sozialstatus und Diabetes) sind aber halt beim Kongress genauer unter die Lupe genommen worden. Was Typ-1-Diabetes auslöst, ist nach wie vor nicht vollständig klar. Bei Typ-2-Diabetes aber scheinen Bildung und Sozialstatus offenbar eine Rolle zu spielen, ohne dass irgendjemand behauptet, dies seien die alleinigen relevanten Faktoren. Und beim erfolgreichen Management der Erkrankung (Typ 1 und 2 gleichermaßen) helfen Bildung und hoher Sozialstatus offenbar ebenfalls. LG Antje
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