Anfang Oktober 2022 hatte ich euch hier gebeten, an einer Umfrage teilzunehmen. Prof. Matthias Fank von der TH Köln, der selbst auch mit Typ-1-Diabetes lebt, wollte Details über das Informationsverhalten von Menschen mit Typ-1-Diabetes herausfinden. Sprich: Wonach entscheidet unsereins über den nächsten Schachzug – z. B., wieviel Insulin zu spritzen ist, wie lang der Spritz-Ess-Abstand ausfallen soll oder wie viele Sport-KE vor dem Training nötig sind?
Matthias hat mit seiner Studie einen großartigen Rücklauf von über 1.000 ausgefüllten Fragebogen erzielt. Danke auch an dieser Stelle also an alle die mitgemacht und damit zu neuen Erkenntnissen beigetragen haben! Nun sind die Ergebnisse ausgewertet, ordentlich aufgeschrieben und veröffentlicht. Und ich finde, dass die Studie eine ganze Reihe von Fragen behandelt, die bislang in dieser Ausführlichkeit noch nicht untersucht wurden.
Ich habe in meinem letzten Blogbeitrag, in dem ich euch über meine Erfahrungen mit digitalen Insulinpens berichtet habe, ja schon ein paar Daten aus der Studie verraten. Nämlich, dass eine Menge Leute im Zusammenhang mit ihrem Diabetes diverse verschiedene Smartphone-Apps nutzen – z. B. eine für die Dokumenation ihrer Glukosewerte, eine für Fitness-Tracking, eine als Kalorien- bzw. Ernährungstagebuch etc. Und dass sie es als Erleichterung empfinden würden, wenn man diese Daten ganz nach gusto in einer einzigen, ggf. sogar herstellerunabhängigen und lokal gehosteten App zusammenführen könnte. Im Folgenden mal ein paar Kommentare aus den Freitextfeldern der Studie, in denen die Teilnehmenden ihre Wünsche an künftige Diabetestechnologie äußern konnten:
„Eine App für alles“
Kommentare der Teilnehmenden in den Freitextfeldern der Studie von Prof. Matthias Fank
„Mehr Systemoffenheit der Hersteller, damit Pumpen und CGM variabel genutzt werden können“
„Mehr Kompatibiliät mit allen Endgeräten“
„Offene Schnittstelle zu CGM und Pumpe, dass zum Schreiben der Treiber kein Reverse-Engineering notwendig ist“
„Einheitliche Ausleseverfahren für den Diabetologen“,
„Sensorwerte von allen Herstellern nutzbar in anderen, herstellerfremden Apps“
„Ich fände es cool, wenn ich die Basalrate der Pumpe (t-Slim) über meine Verlaufskurve legen könnte.“
„Dass ich mit interoperablen Tools meine Behandlung unabhängig von Herstellern zusammenstellen kann“
„Dass mein Pen an die App sendet, wann von welchem Insulin wie viele Einheiten gespritzt wurden. Dann muss ich das nicht händisch machen, was viel zu mühsam ist.“
„Eine offiziell zugelassene App mit sämtlichen Funktionen von xdripDass Loop-Apps sich soweit verbessern, dass man auch einem dualem Bolus und/oder FPEs abgeben kann ohne Tricks.“
„Offener Standard zur freien Informationsaustausch zwischen Apps unf anderen Hilfsmiteln“.
„Freien Zugang zu den eigenen BZ-Daten aus den CGM-Sensoren über eine API des jeweiligen Herstellers. Dies müsste analog geregelt sein wie z.B. das Recht auf den Zugang zu Bankdaten über Drittanbieter-Apps.“
„Einen Algorithmus, der mehr von mir wissen und mich wirklich ‚kennenlernen‘ möchte.“
„Interoperabilität als Zulassungsvoraussetzung für Medizinprodukte!“
„Dass auch andere Apps einfacher auf die Live-Daten meines CGM (Dexcom) zugreifen können, ohne dass ich dafür komplizierte Dienste wie Nightscout installieren muss.“
„Die grobe Missachtung des Datenschutzes bei höchst sensiblen Gesundheitsdaten ist der Grund, warum ich keine Apps für meinen Diabetes nutze.“
Und so weiter. Ich erspare euch hier die vielen, vielen Kommentare, in denen immer wieder mit anderen Worten eine bessere Interoperabilität, offene Schnittstellen und herstellerunabhängige Apps gefordert wurde. Die Liste würde sonst (fast) endlos weitergehen. Ich hoffe wirklich, dass die Botschaft auch bei all denjenigen Firman ankommt, die bislang ihre Schnittstellen verschlossen halten, sodass man z. B. nicht – wie in meinem Fall – die Glukosedaten vom Freestyle Libre auf der Smartwatch sehen oder in eine andere App exportieren kann. Oder Fitness- und Ernährungsdaten in die Libre-App importieren (statt händisch eintragen). Oder oder oder… die Liste der Dinge, die nicht miteinander funktionieren, scheint mir jedenfalls deutlich länger zu sein als die Liste der Kombinationsmöglichkeiten.
Aktueller Glukosewert und Trendpfeil geben die beste Orientierung
Doch abgesehen vom Thema Apps und Interoperabilität ist die Studie auch aus einem anderen Grund sehr interessant. Denn was meines Wissens zuvor bislang auch noch nicht in dieser Ausführlichkeit untersucht wurde, ist die Frage, welche Informationen Menschen mit Typ-1-Diabetes in welcher Priorisierung im Alltag für ihre diabetesbezogenen Entscheidungen nutzen. Da die allermeisten mittlerweile ein System zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) haben, spielen natürlich vor allem die Daten eine Rolle, die vom CGM generiert werden. Für die allermeisten (67,5%) aller Befragten ist danach der aktuelle Glukosewert wichtigster Entscheidungsparameter. Die Zeit im Zielbereich (Time in Range, TIR) ist für 8,2% die zentrale Information. Parameter wie die Glukoseverlaufskurve (7,2%), HbA1c-Wert (7,2%), Trendpfeil (6,8%) und die Information über das noch wirksame Insulin im Körper (Insulin on Board, IOB), die allerdings in der Regel nur Pumpenträger*innen zur Verfügung steht (1,3%), sind nur für eine Minderheit die allerwichtigste Information.
Zweitwichtigster Parameter ist der Trendpfeil, an dem sich 38,2% direkt nach dem aktuellen Glukosewert orientieren. Die Glukoseverlaufskurve wiederum ist für 20,8% zweitwichtigster Entscheidungsparameter. Aktueller Wert (13,7%), IOB (8,8%), TIR (8,4%) und HbA1c (7,1%) stehen nur für sehr wenige der Befragten an zweiter Stelle ihrer Entscheidungsmatrix. Dritte Priorität hat für 27,9% die Verlaufskurve, gefolgt von IOB (21,8%), Trendpfeil (17%), TIR (12,3%), HbA1c (9%) und aktuellem Wert (7,3%). Und so weiter. Schaut am besten direkt in die Langversion der Studie rein, wenn ihr alle Zahlen studieren wollt. Dort sind sie auch hübsch in Balkendiagrammen visualisiert.
Wenig überraschende Daten – doch nun haben wir sie schwarz auf weiß!
Wir können also festhalten: Für aktuelle Entscheidungen orientieren sich Menschen mit Diabetes am aktuellen Status Quo (aktueller Glukosewert, aktuelle Verlaufskurve, IOB), wohingegen langfristige Parameter wie HbA1c oder TIR für aktuelle Entscheidungen keine große Rolle spielen. Man nutzt diese Werte eher für die generelle nachträgliche Steuerung. Ich finde diese Priorisierungen zwar wenig überraschend, denn so ähnlich sieht auch meine persönliche Gewichtung aus. Aber meines Wissens wurde das halt bislang noch nie so detailliert abgefragt, und nun haben wir die Daten schwarz auf weiß. Ich hoffe also, dass Matthias‘ Studie von möglichst vielen Menschen in der Diabeteswelt (Diabetolog*innen, Diabetesberater*innen, Mitgliedern der AGDT, Krankenkassen, Medizinprodukteindustrie etc.) gelesen und in künftige Überlegungen einbezogen wird.