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Brief an mein jüngeres Ich – oder: Dinge, die ich bei der Diagnose gern gewusst hätte

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Heute ist Tag 2 der Diabetes-Blog-Woche, und das heutige Aufsatz-Thema erinnert mich an ein Projekt, das ich gern angeschoben hätte, das aber aus unerfindlichen Gründen leider nie in Schwung gekommen ist. Der Arbeitstitel seinerzeit war „Briefe an mein jüngeres Ich“. Und genau so einen Brief werde ich heute schreiben.

Die Idee für das Projekt stammte von einem Kongress der europäischen Diabetesgesellschaft EASD in Lissabon, wo ich in der Industrieausstellung am Stand von Novo Nordisk ein tolles Büchlein entdeckte. Es ist in englischer Sprache abgefasst, heißt „In your own words – Reflections on living with diabetes“ und enthält kurze Portraits und Briefe von Menschen mit Typ-2-Diabetes an ihr jüngeres Ich, in denen sie sich selbst Ratschläge für einen besonders kritischen Moment in ihrer „Diabeteskarriere“ geben. Die portraitierten Briefeschreiber erinnerten sich also an diesen kritischen Moment, an ihre Verzweiflung, Angst oder Scham. Und sie schrieben diesem jüngeren Ich Briefe, in denen sie auf ihre Gefühle und Sorgen von damals eingehen. Man kann die Portraits und die dazugehörigen Briefe auch vollständig online nachlesen. Ein wunderschönes und sehr berührendes Projekt, wie ich finde. Eigentlich hätte ich etwas Vergleichbares gern auch in Deutschland angschoben, jedenfalls habe ich beim Diabetes-Barcamp 2017 in Frankfurt die Idee in den Raum gestellt.

Ich will nun gar nicht lange herumsinnieren, warum das deutsche Projekt „Brief an mein jüngeres Ich“ seinerzeit im Sande verlaufen ist. Sondern stattdessen einfach einen Brief an MEIN jüngeres Ich schreiben.

Liebe Antje,

ich erwische dich gerade in einem richtig blöden Moment. Doch vielleicht kannst du dich zwischen zwei verzweifelten Schluchzern ja kurz beruhigen und hören, was ich dir als dein älteres Ich im Rückblick auf diesen beschissenen Tag erzählen kann.

Du hast gerade erfahren, dass du Typ-1-Diabetes hast. Du stehst auf der Betontreppe am Einkaufszentrum, wo dein Hausarzt seine Praxis hat. Er hat den hohen Blutzuckerwert bestätigt, den der Blutspendedienst gemessen hat und den du erst für eine Fehlmessung hieltest, weil du gar keine Diabetes-Symptome hattest. Der Hausarzt hat genau richtig gehandelt und dich auf schnellstem Weg zum Diabetologen geschickt. Und nun stehst du da allein auf der Treppe und versuchst, deine Gedanken zu sortieren. Du ahnst, dass ab jetzt alles anders sein wird, weil du nun Diabetes hast. (Dein Hausarzt ist inzwischen übrigens längst im Ruhestand, und die Betontreppe hinunter zur Tiefgarage gibt es in dieser Form auch nicht mehr. Ich war erst letztes Wochenende einmal dort und habe geschaut, ob ich den genauen Ort meiner Diabetes-Erkenntnis wiederfinde. Ab und an mache ich das bis heute.) Du weißt, dass dein Freund Christoph, mit dem du erst seit einem Jahr zusammen bist, gerade irgendwo im Flugzeug über China sitzt und nicht erreichbar ist. Du hast ihm auf die Mailbox gesprochen, jetzt ist die Kundin in der PR-Agentur dran, der du eigentlich zugesagt hattest, einen PR-Text anlässlich des Launches des Accu-Chek Mobile Blutzuckermessgeräts zu schreiben. Für heute wird das nichts mehr. Bislang hast du als Journalistin nur über diese Erkrankung geschrieben. Jetzt hast du sie auf einmal selbst. Du fühlst dich ungerecht bestraft und hast große Angst vor dem, was jetzt kommt. Ein Leben mit Diabetes.

Bitte beruhige dich. Deine Angst ist absolut verständlich, doch du musst dich von ihr nicht beherrschen lassen. Du musst zum Beispiel keine Angst haben, dass Christoph sich von dir zurückzieht, weil er kein Interesse an einer Frau mit Diabetes hat. Ganz im Gegenteil sogar! Christoph wird dir die beste Stütze sein, die du dir bei der Bewältigung dieser neuen Herausforderung nur wünschen kannst. Und natürlich auch sonst. Und in etwas mehr als einem Jahr seid ihr zwei verheiratet, noch ein Jahr weiter kauft ihr gemeinsam ein Haus. Wie cool ist das denn bitte?

Aktuell hast du noch ein etwas einseitiges Bild von Menschen mit Diabetes in deinem Kopf. Sie waren für dich bislang nur eine abstrakte Zielgruppe, für die du ab und an Texte verfassen musstest. Gib es zu: Wie die meisten anderen Leute um dich herum, denkst auch du beim Stichwort Diabetes leider vor allem an ältere, übergewichtige Menschen, die ihr Leben irgendwie nicht richtig im Griff haben und deshalb Diabetes bekommen haben. Glaub mir, dein Horizont wird sich gewaltig erweitern. Du wirst mehr Respekt und Verständnis für Menschen mit Diabetes haben. Du wirst eine Menge Leute kennen lernen, die so gar nicht den gängigen Diabetes-Klischees entsprechen. Die sich von ihrem Diabetes nicht abhalten lassen, die allerdollsten Dinger durchzuziehen. Mit denen du dich austauschen kannst, die deine Freundinnen und Freunde werden. Du wirst einen viel größeren Freundeskreis haben als jetzt!

Du schreibst nun schon seit einigen Jahren immer mal über Diabetes und hast dich ein wenig in das Thema eingefuchst. Dieses Vorwissen wird dir ganz gewaltig dabei helfen, deinen Diabetes von Anfang an gut zu managen. Das ist ein großes Privileg, das die meisten anderen Menschen mit Diabetes nicht haben. Doch damit nicht genug: Deine Texte über Diabetesthemen werden nun, da du auch die Innenperspektive kennst, viel besser als vorher sein. Du wirst immer häufiger von den entsprechenden Redaktionen und Firmen beauftragt werden, regelmäßig zu Diabetes-Kongressen reisen, dein Wissen vertiefen und einen immer größeren Teil deines Umsatzes als freie Journalistin mit dem Thema Diabetes erwirtschaften. Was du bei Kongressen lernst, ist für dich auch private Fortbildung. Du wirst beginnen, über dein Leben mit Typ-1-Diabetes zu bloggen und sogar ein Buch herausbringen. Du hast dir den Diabetes zwar nicht ausgesucht, aber glaub mir, es wird dir gelingen, das Beste draus zu machen.

Ich möchte dir noch etwas verraten, das du wohl am allerwenigsten für möglich halten wirst, weil du bislang noch nie echten sportlichen Ehrgeiz verspürt hast und immer nur zum pflichtbewussten Ausgleich für deine Büroarbeit ins Fitnessstudio gehst. Du wirst Triathletin sein und Halbmarathon laufen! Der Sport wird dir dabei helfen, dich wieder als der Boss in deinem eigenen Körper zu fühlen. Du schüttelst noch ungläubig den Kopf, aber es ist wahr: Du wirst mit Ende 40 körperlich fitter sein als du es z. B. mit Mitte 20 warst. Und ohne deinen blöden Diabetes würde dich dieser Ehrgeiz vermutlich nie packen.

Wenn ich auf den Zeitraum seit diesem unseligen 30. März 2010 zurückblicke, möchte ich dir aber auch sagen, dass du allen Grund haben wirst, stolz zu sein. Du wirst diesen ganzen Diabetes-Mist nämlich von Anfang an ziemlich gut hinkriegen. Du wirst deine Trauer und deine Wut akzeptieren, dich aber nicht von ihnen unterkriegen lassen. Du wirst lernen, andere um Hilfe zu bitten und Schwäche einzugestehen. Du wirst mutig die neuen Wege gehen, die sich durch deine Diagnose ergeben. Du wirst dich wieder mit deinem Körper versöhnen, von dem du jetzt noch glaubst, dass er dich kläglich im Stich lässt. (Nochmal: Triathlon! Halbmarathon!! Ja, doch, das stimmt!!!)

Andererseits wird Diabetes aber auch nie völlig normal für dich sein. Du kannst dich einfach zu gut an vier Jahrzehnte ohne Diabetes erinnern. Während ich diesen Brief an dich, mein jüngeres Ich, schreibe, habe ich einen dicken Kloß im Hals. Es wird immer auch ein bisschen schwer bleiben. Aber so ist das Leben halt.

Ich drücke dich ganz fest, du schaffst das! ❤

Viele liebe Grüße, dein älteres Ich

DBW20189-Logo-HD

Wollt ihr gern wissen, was anderen Bloggerinnen und Bloggern zum Thema „Dinge, die ich bei der Diagnose gern gewusst hätte“ durch den Kopf gegangen ist? Dann klickt euch hier durch ihre Beiträge. Morgen geht es weiter mit der DBW2019, dann mit dem Thema „Folgekomplikationen – präsent oder verdrängt?“. Also stay tuned!

3 Kommentare zu “Brief an mein jüngeres Ich – oder: Dinge, die ich bei der Diagnose gern gewusst hätte

  1. Pingback: Erinnerung an meine Diagnose: Die fünf Phasen der Trauer | Süß, happy und fit

  2. Grossartig. Danke.

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