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Von wegen zuckerkrank – ein Blog über glückliches Leben, leckere Ernährung und Sport mit Typ-1-Diabetes

Alles vernetzt, alles automatisch: Wie viel Big Data verträgt mein Diabetesmanagement?

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Es wäre toll, wenn meine Diabetes-App automatisch mit Bewegungsdaten aus meinem Schrittzähler gefüttert würde. Wenn noch viel mehr Daten automatisch gesammelt würden. Und doch haben mir manche Visionen, wie sie beim ATTD-Kongress in Paris heraufbeschworen wurden, auch ein wenig Angst eingejagt.

Vor ein paar Wochen habe ich erstmals den ATTD-Kongress besucht. ATTD steht für „Advanced Technologies and Treatment for Diabetes“, und der Kongress fand dieses Jahr zu meiner großen Freude in Paris statt. Die Firma Roche Diagnostics hatte mich und einen Haufen andere Blogger zu einem #Diabetesmeetup eingeladen, und ich nutzte die tolle Gelegenheit, auch den Kongress zu besuchen und Themen und Inhalte für verschiedene Diabetes-Publikationen zu sammeln.

Bei der Veranstaltung von Roche waren – wie bei Blogger-Events so üblich 😉  – wieder einmal Zukunftsvisionen und Kreativität gefragt. Nach einem ähnlichen Blogger-Event im Rahmen des EASD-Kongresses 2016 in München hatte Roche nämlich das Input der Blogger-Szene gesammelt und in einem Ideen-Lab weiterentwickelt. Und nun wurde über die (vorläufigen) Ergebnisse dieser Nerd-Sessions diskutiert.

Diabetes-Chatbot als bester Kumpel in allen Diabetesfragen

Wie wäre es also, wenn es einen Diabetes-Chatbot gäbe, der über mein Smartphone Zugriff auf all meine diabetesrelevanten Daten hätte (die ich dann natürlich auch komplett über Apps verwalten müsste)? Ich könnte ihn per Chat anschreiben und ihm alle möglichen Fragen zu meinem Diabetes stellen, etwa: „Wann brauche ich mein nächstes Insulin-Rezept?“ oder „Wieviele Kohlenhydrate sollte ich essen, wenn mein Blutzucker nicht über 180 steigen soll?“ oder „Liegt mein Zucker heute im Zielbereich?“ Da Chatbots Sprache mittlerweile schon ziemlich intelligent auswerten können, wären der Fantasie kaum Grenzen gesetzt – der Chatbot wäre eine Art bester Diabetes-Kumpel, der auf alles eine Antwort weiß.

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Warum habe ich nach einem Besuch der Konditorei immer hohe Zuckerwerte?

In einem anderen Projekt ging es um die Verknüpfung von Diabetes- mit GPS-Daten. Denn möglicherweise hilft es mir zu wissen, dass mein Zucker regelmäßig nach dem Besuch bestimmter Orte (zum Beispiel Konditoreien… 😉 ) herumzickt. Oder dass ich immer wieder auf dem Weg zur Arbeit unterzuckere (vielleicht, weil ich mit dem Fahrrad hinfahre?). Die Diabetes-App würde dann nicht nur eine Glukosekurve, sondern auch ein Bewegungsprofil mit GPS-Koordinaten anzeigen, sodass ich meinen gesamten Diabetestag mit all seinen relevanten Einflussgrößen besser im Blick habe.

Automatische Verknüpfungen wären natürlich bequem, ABER…

Ich muss sagen, dass mir diese Ideen eher gemischte Gefühle bescherten. Natürlich wäre es um einiges einfacher, alle Daten in einer App verfügbar zu haben. Für mein eigenes Diabetesmanagement zum Beispiel fände ich es sehr hilfreich, wenn ich auch mit dem iPhone problemlos die Daten meines Freestyle Libre in die mySugr-App importieren könnte – und wenn diese sich auch noch meine Bewegungsdaten aus der fitbit-App ziehen würde, mit der ich meine Schritte zähle. Denn es ist mir natürlich zu umständlich, jeden Gang von zehn Minuten bei mySugr manuell zu dokumentieren, obwohl auch eine kurze Aktivität durchaus Einfluss auf meinen Zuckerwert haben kann. Mit einer automatischen Verknüpfung zwischen mySugr und fitbit ginge auch der Diabetes-App kein Schritt verloren, ganz ohne zusätzlichen Aufwand, das wäre super. Ja, und jetzt kommt das große ABER.

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Meine Lektüre beim ATTD-Kongress: Der Roman „Zero“ von Marc Elsberg

Wie der Zufall es so will, las ich just in der Zeit, als ich mich auf dem ATTD-Kongress tummelte, den Roman „Zero“ von Marc Elsberg. Darin geht es um die fiktive Internetplattform „Freemee“, die Daten über ihre Nutzer sammelt und analysiert – und ihnen ein besseres Leben und mehr Erfolg verspricht. Ganz ähnlich wie mein Fitnesstracker fitbit mich bereits heute durch Challenges motiviert, mehr Schritte zu gehen (und dadurch meine Gesundheit zu verbessern), stehen den Nutzern bei Freemee digitale Coaches zur Seite, die einen diskret in allen Lebenslagen beraten: Welches Outfit sollte ich tragen, um meine Flirtchancen bei meinem Lieblingskollegen zu verbessern? Freemee kennt ihn ebenso gut wie mich und kann mir bei jedem Kontakt hilfreiche Tipps einflüstern. Wie kann ich mein Beliebtheitsranking in den sozialen Medien verbessern und damit den Wert meiner Daten erhöhen? Freemee weiß genau, welche Veränderungen ich an meinem Aussehen, an meinen Aktivitäten, an meinem Verhalten vornehmen muss, um besser anzukommen. Klingt irgendwie gruselig, aber doch auch cool, oder? Dummerweise steckt hinter der fiktiven Plattform Freemee ein Konzern, dessen Bigboss eine ziemlich zwielichtige Gestalt ist, die Zugriff auf alle Nutzerdaten hat und nicht davor zurückschreckt, Menschen für seine eigenen Zwecke zu manipulieren. Der Roman ist wirklich packend geschrieben, ich mochte ihn gar nicht gern weglegen, sobald ich einmal in die Story eingetaucht war.

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Wo lagern meine Daten? Wer hat Zugriff darauf? Wer manipuliert mich?

Und vor dem Hintergrund dieser Lektüre erschienen mir die Visionen vom #Diabetesmeetup auf einmal gar nicht mehr so verheißungsvoll, sondern auch ein bisschen gruselig. Denn machen wir uns nichts vor: Jede cloudbasierte Datensammlung birgt ein Datenschutzrisiko. Wo lagern meine Daten? Wer hat Zugriff auf sie? Wie verändern sich die Empfehlungen, die ein Chatbot oder eine App mir gibt, wenn der Algorithmus verändert wird? Wer verändert eigentlich die Algorithmen und warum? Welche Ziele verfolgen die Menschen, die in der Algorithmus-Schaltzentrale sitzen? Sind diese Menschen vertrauenswürdig? Sind sie käuflich? Sind sie machtbesessen? Ich hatte mir ja in der Vergangenheit schon einmal Gedanken über die Kehrseite der Medaille der digitalen Vernetzung gemacht, nämlich als ich den Roman „Circle“ von Dave Eggers gelesen hatte. Beim ATTD-Kongress begleiteten mich also mulmige Gedanken zur den Risiken eines automatisierten Datenmanagements.

Zu wenige Diabetologen für zu viele Diabetiker – da hilft nur ein Algorithmus

Wie die wissenschaftlichen Sitzungen beim Kongress mir zeigten, waren die spielerisch angedachten Projekte des Diabetes Meetup von Roche keineswegs realitätsferne Spinnereien, mit denen ein Unternehmen technikaffine Blogger bespaßen will. Gleich in der ersten Vortragssitzung am Donnerstagmorgen erklärten ausgewiesene Experten, was sie sich von den neuen Möglichkeiten der Diabetestechnologie versprechen. So erklärte Prof. Moshe Philip vom Institut für Endokrinologie und Diabetes am Schneider Children’s Medical Center in Israel, dass allein die viel zu geringe Zahl qualifizierter Diabetologen ein triftiger Grund für automatisierte Therapieempfehlungen ist: „Es gibt in den USA derzeit 21 Millionen diagnostizierte Diabetiker, aber insgesamt nur etwa 6.000 praktizierende Endokrinologen für Erwachsene und Kinder.“ Angesichts einer stetig steigenden Zahl neuer Diabetespatienten dürfte sich der Schlüssel in Zukunft weiter verschlechtern.

Diabetesberatung ist wie Detektivarbeit und braucht viel Zeit und Geduld

„Diabetesmanagement ist komplex, denn man muss jede Menge Daten berücksichtigen: Wie war der Zuckerwert? Was habe ich an dem Tag gemacht? Wie viel Insulin habe ich gespritzt?“, sagte Prof. Philip. Die Aufgabe des Diabetologen gleiche dabei einer detektivischen Spurensuche: Daten herunterladen, gemeinsam mit dem Patienten auswerten, einzelnen Ausreißern auf den Grund gehen. „Das erfordert viel Zeit und persönliche Ansprache.“ Weil immer mehr der relevanten Daten heute in Form von Insulinpumpen, CGM-Systemen und Apps digital erfasst werden, liegt es daher nahe, Algorithmen einen Großteil der diabetologischen Spurensuche zu überlassen. Prof. Philip erklärte: „Man wünscht sich ein System, das Zeit spart und ebenso zuverlässig wie ein Diabetologe die Zahl der alltäglichen Fehler im Diabetesmanagement reduziert. Zum Beispiel, indem es mit einem Klick erkennt, dass der Patient immer erst nach dem Essen seinen Mahlzeitenbolus abgibt – was möglicherweise hohe postprandiale Werte erklären würde.“

DreaMed AdvisorPro gibt so gute Ratschläge wie ein qualifizierter Diabetologe

Neben seiner klinischen Tätigkeit experimentiert Prof. Philip daher als wissenschaftlicher Leiter der Firma DreaMed Diabetes an einem Produkt namens AdvisorPro, das genau diese Datenanalyse vornimmt und dem Patienten empfiehlt, was als nächstes zu tun ist. Die Anwendung speichere alle Daten in der Cloud, so dass sie von überall aus für den Patienten und sein Diabetesteam zugänglich seien. „Es ist ein selbstlernendes System, das sich flexibel an die Bedürfnisse verschiedener Patientengruppen anpassen lässt“, beschrieb Prof. Philip die Anwendung. In einer Pilotstudie habe das System bereits bewiesen, dass es ebenso gute Empfehlungen abgebe wie ein gut ausgebildeter und erfahrener Diabetologe. „Die Unterschiede zwischen den Empfehlungen des AdvisorPro und denen von Diabetologen sind nicht größer als die Unterschiede zwischen den Empfehlungen verschiedener Diabetologen“, erläuterte Prof. Philip. Ob sich das System auch im alltäglichen Einsatz bewährt, wird eine klinische Studie zeigen. Doch Prof. Philip zeigte sich überzeugt von seinem automatisierten Entscheidungshelfer: „Der Advisor geht sehr systematisch vor. Ihm fällt zum Beispiel auf, wenn ein 14-jähriger Patient generell immer etwas weniger Insulin spritzt als der Boluskalkulator ihm vorgeschlagen hat. Mir als Arzt fallen Besonderheiten dieser Art längst nicht so schnell auf wie dem Algorithmus.“

Na, erinnert euch das auch irgendwie an den Chatbot, der als Diabetes-Kumpel auf alle Fragen eine Antwort weiß? (Oder an die digitalen Coaches von Freemee?) Freut ihr euch über diese Entwicklungen oder machen sie euch auch ein wenig Angst?

Den ATTD-Kongress konnte ich aufgrund einer Einladung von Roche Diabetes Care zu einem Blogger-Event besuchen. Meine Blogbeiträge über diesen Kongress und das Blogger-Event spiegeln meine persönliche und vom Veranstalter unbeeinflusste Meinung wider.

 

3 Kommentare zu “Alles vernetzt, alles automatisch: Wie viel Big Data verträgt mein Diabetesmanagement?

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