Eine künstliche Bauchspeicheldrüse Marke Eigenbau, auf Englisch auch „DIY Closed Loop“ genannt, ist momentan DER heiße Scheiß in der Diabetes-Community. Beim Diatec-Kongress und beim T1Day Ende Januar in Berlin habe ich mich schlau gemacht, was geht und was nicht geht – und über welche Risiken man als Anwender unbedingt Bescheid wissen sollte.
Man nehme: eine Insulinpumpe, ein CGM-System und ein Steuerungsmodul, das die beiden Elemente per Algorithmus miteinander verknüpft – und voilà, schon hat man eine künstliche Bauchspeicheldrüse, die vollautomatisch die aktuell gerade passende Insulinzufuhr regelt. Das zumindest stellen sich viele Menschen unter einem DIY Closed Loop vor. Ganz so einfach ist das alles allerdings nicht. Und das liegt nicht nur an den haftungsrechtlichen Herausforderungen, über die ich hier neulich ja schon einmal geschrieben hatte.
Denn es braucht einiges an technischem Verständnis und vor allem mehr als nur mittelmäßiges Interesse am Diabetes-Feintuning, um ein DIY Closed Loop ins Laufen zu bringen. Und nicht zuletzt muss man sich der Risiken bewusst sein, wenn man medizinische Hilfsmittel anders einsetzt als es vom Hersteller eigentlich vorgesehen ist. Doch zunächst einmal – als kleine Hilfestellung für alle, die noch nicht vertraut mit der Materie sind – vorweg eine…
… kleine Vokabelliste für Einsteiger:
OpenAPS: Open Artificial Pancreas System (offenes künstliches Bauchspeicheldrüsen-System)
Closed Loop: Künstliche Bauchspeicheldrüse (wörtlich: geschlossener Kreis)
loopen: ein Closed Loop-System nutzen
#wearenotwaiting: Hashtag der OpenAPS- bzw. DIY Closed Loop-Community
DIY: Abkürzung für Do it yourself (selbermachen statt fertig kaufen)
Nightscout: DIY-Community, die CGM-Daten über die Cloud nutzt, gleichzeitig Ausgangspunkt der OpenAPS-Bewegung in den USA. Z. B. unter diesem Link gibt es zentrale Informationen in deutscher Sprache
Und nun weiter im Text. Wenn so ein System einmal läuft und regelmäßig mit neuen Daten gefüttert wird, dann lassen sich damit zum Teil Glukoseverläufe erreichen, von denen auch so mancher Stoffwechselgesunde nur träumen kann. Die Looper, die beim Diatec-Kongress und T1Day über ihre Erfahrungen berichteten, präsentierten unglaublich flache Glukosekurven, HbA1c-Werte zwischen 4,9 und 5,8 Prozent, über 90 Prozent Zeit im Zielbereich (auf Englisch „time in range“, TIR), kaum noch Nächte mit CGM-Alarmen und keinerlei Glukosewerte über 180 oder unter 60 mg/dl. Das ist natürlich sehr beeindruckend und zeigt: So ein DIY Closed Loop kann einfach deutlich mehr als die Summe seiner Einzelkomponenten. Kein Wunder also, dass viele in der Community nicht länger warten wollen, bis die Industrie endlich ein fix und fertiges Closed Loop-System auf den Markt bringt.
Bei aller verständlichen Begeisterung sollte man sich aber auch über die Hürden, Alltagsprobleme und Risiken im klaren sein, die mit einem DIY Closed Loop verbunden sind. Diese 10 Dinge solltest du wissen, wenn du darüber nachdenkst, dir selbst eine künstliche Bauchspeicheldrüse zu bauen:
Punkt 1: Du musst die erforderlichen Komponenten beschaffen. Es gibt nicht die eine
Lösung von der Stange, sondern viele Varianten – je nachdem, welche Insulinpumpe, welches CGM-System und welches Smartphone miteinander kombiniert werden sollen, brauchst du verschiedene Apps, ein Riley Link, einen
kleinen Linux-PC wie etwa ein Rasperry Pi oder xDrip. Sascha von Sugartweaks hat auf seinem Blog sehr schön zusammengestellt, welche Komponenten man braucht, wie man alles installiert und wie man den Loop in Gang bringt.
Punkt 2: Du darfst keine Scheu vor technischem Vokabular haben. „Hast du schon dein Wixel geflasht und xDrip neu gebootet?“ Auf solche Fragen solltest du gefasst sein, wenn du als Neuling in der OpenAPS-Community um Rat fragst. Die Diabetesberaterin Ulrike Thurm, selbst Typ-1-Diabetikerin und seit einer Weile mit OpenAPS ausgestattet, meinte beim Diatec-Kongress dazu: „Wer loopen will, muss eine neue Sprache lernen!“
Punkt 3: Du musst das System allein durchschauen. Es gibt in der aktiven Community zwar Tipps und Hilfestellung, aber Handbücher und die diversen Websites musst du ganz allein durcharbeiten und verstehen. Viele Looper berichten davon, dass ihnen schon horrende Beträge angeboten wurden, damit sie jemand anderem ein DIY Closed Loop aufsetzen. Eingegangen ist bislang noch niemand darauf, denn man muss als Looper zwar nicht Informatik studiert haben, doch ein Selbstgänger ist das ganze auch nicht – es wäre also extrem fahrlässig, sein eigenes System nicht selbst aus dem Effeff zu kennen und zu beherrschen.
Punkt 4: Dein Diabetesmanagement muss schon vor Start top sein. Ohne Kenntnis der präzisen Basalraten, temporären Basalraten, Korrekturfaktoren und Kohlenhydratfaktoren kann auch der tollste Algorithmus den Diabetes nicht ordentlich managen. Deshalb solltest du deinen Stoffwechsel ganz genau kennen und auch mit sämtlichen Funktionen deiner Insulinpumpe und deines CGM-Systems sehr gut vertraut sein. Merke: Deine künstliche Bauchspeicheldrüse ist nur so gut wie die Daten, mit denen du es fütterst!
Punkt 5: Dein Diabetesmanagement wird weiterhin viel Grips fordern. Du bekommst mit einem DIY Closed Loop noch umfassendere Datenmengen als du es von deiner Insulinpumpe und deinem CGM-System kennst. Diese Daten müssen regelmäßig ausgewertet werden, damit du am Feintuning deiner künstlichen Bauchspeicheldrüse arbeiten kannst. Außerdem gibt es in der Community immer wieder mal Updates für den Algorithmus sowie neue Tricks und Kniffe, bei denen du am Ball bleiben solltest.
Punkt 6: Du wirst weiterhin Kohlenhydrate schätzen müssen. Natürlich könnte deine künstliche Bauchspeicheldrüse auch auf die steigenden Glukosewerte bei einer heftigen Eiskrempizzanudel-Schlacht reagieren. Doch wenn du unschöne Spitzen vermeiden möchtest, solltest du bedenken, dass der Katheter der Insulinpumpe auch bei einem Closed Loop nun einmal im Unterhautfettgewebe sitzt, sodass das Insulin etwas Vorlauf benötigt, damit es auf den Punkt wirken kann. Am besten kann dein Closed Loop arbeiten, wenn du ihm z. B. mitteilst, dass du über die nächste Stunde verteilt 50 Gramm Kohlenhydrate zu dir nehmen wirst.
Punkt 7: Erwarte nicht allzu viel Begeisterung deiner Diabetespraxis. Viele Diabetologen und Diabetesberaterinnen sind skeptisch gegenüber der DIY-Bewegung. Und das nicht ohne Grund, denn wenn sie dich bei der Installation und dem Betrieb eines selbstgebauten Closed Loop beraten, bewegen sie sich rechtlich auf sehr dünnem Eis und können im Ernstfall haftbar gemacht werden. Beim Diatec-Kongress, der sich an Ärztinnen und Ärzte richtet, wurde zum Teil sehr kontrovers diskutiert. Die Sorge um juristische Grauzonen und Haftungsprobleme ist die eine Sache. Der Wunsch, Patienten bei einem besseren Diabetesmanagement zu helfen, wie es mit einem DIY Closed Loop nun einmal möglich ist, ist die andere Seite der Medaille. Hab also ein wenig Verständnis, wenn dein Diadoc hin- und hergerissen ist, wenn du ihm von deinen Plänen erzählst.
Punkt 8: Du bist fortan noch stärker abhängig von Technik und Stromversorgung. Die Steuerung deiner künstlichen Bauchspeicheldrüse läuft mit einem DIY Closed Loop komplett über dein Smartphone. Das bedeutet: Das Smartphone muss immer genug Akku haben, du solltest also als Backup immer ein Ladegerät (auf Reisen ggf. auch Reiseadapter) und/oder eine Powerbank dabeihaben. Überlege dir auch einen Plan B für den Fall, dass du dein Smartphone verlierst oder es dir gestohlen wird. Mittlerweile wurde mir von selbst gehosteten Offline-Lösungen berichtet, bei denen sämtliche Daten rein stationär verwaltet werden. Doch zumindest wenn du Nightscout in der üblichen Weise nutzen möchtest, läuft der Datenabgleich zwischen den Komponenten über die Cloud, und dafür muss dein Smartphone ständig im Netz sein. A propos Cloud: Wenn du Wert auf peniblen Datenschutz legst, bist du in der DIY-Community vermutlich eher falsch.
Punkt 9: Du machst das alles auf eigene Verantwortung. Dir muss bewusst sein, dass du deine Insulinpumpe beim Loopen anders nutzt als es vom Hersteller vorgesehen ist. Deshalb kannst du bei einem Systemversagen nicht den Pumpen- oder CGM-Hersteller zur Verantwortung ziehen. Der Organisator des Diatec-Kongress und des T1Day Prof. Lutz Heinemann ging mit seiner Warnung sogar noch ein Stück weiter: „Nehmt das mit dem Haftungsproblem ernst. Wenn ihr ins Krankenhaus müsst und rauskommt, dass ihr eure Geräte anders nutzt als vorgesehen, könnte es sein, dass ihr den Aufenthalt selbst bezahlen müsst.“ Oder stell dir einmal vor, dein Closed Loop fällt aus irgendwelchen Gründen aus, wenn du gerade am Steuer deines Autos sitzt. Du hast eine Hypo, wirst bewusstlos und verursachst einen schweren Autounfall, möglicherweise sogar mit Personenschaden. In solchen Fällen stellen die beteiligten Versicherungen bekanntlich umfangreiche Recherchen an, um den Verantwortlichen zu ermitteln. Finden sie heraus, dass du ein nicht zugelassenes System verwendest, kommst du in Teufels Küche – ebenso wie dein Diabetologe, sofern aus seiner Dokumentation ersichtlich ist, dass er davon wusste und dir möglicherweise sogar dabei geholfen hat, ein DIY Closed Loop zu nutzen.
Punkt 10: Die Lage ist trotzdem nicht hoffnungslos. Mittlerweile unterstützen einflussreiche Institutionen und Unternehmen die Looper-Community. So hat die US-amerikanische Organisation JDRF im Herbst 2017 bekanntgegeben, dass sie die Entwicklung der eines „Open Protocol“ für Closed Loop-Systeme unterstützt und gegenüber den Zulassungsbehörden vertreten wird. Beim ATTD-Kongress in Wien im Februar wiederum kündigte die Firma Roche Diabetes Care an, dass sie die Open Protocol-Initiative der JDRF unterstützen wird. Diese Nachricht schlug bei den vielen twitternden Diabetes-Techies wie eine Bombe ein, denn mit der Unterstützung durch große Diabetes-Unternehmen dürfte es eher gelingen, die bürokratischen Mühlen bei den Zulassungsbehörden ein bisschen auf Trab zu bringen. Außerdem hilft die Rückendeckung großer Organisationen und Unternehmen sicherlich auch im Falle juristischer Auseinandersetzungen bei Haftungsproblemen.
Ihr seht also: Es ist einiges in Bewegung. Doch wer eine künstliche Bauchspeicheldrüse nutzen möchte, muss sich vor allem selbst bewegen – und braucht vorerst weiterhin ein bisschen Pioniergeist und Mut zum Risiko.
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