Der Festakt von DiabetesDE anlässlich dieses historischen Meilensteins ist zwar schon einen Monat her, aber für mich ist eigentlich dieses ganze Jahr ein Festjahr, in dem ich mehr als ohnehin schon jeden Tag dankbar für die großartige Entdeckung des Arztes Frederick Banting und des Biochemikers Charles Best bin.
Am 24. Juli 2021 kamen in Berlin Menschen aus der Diabetesszene zusammen – wenn auch nicht ganz so viele, wie man sonst zu einem solch großen Anlass eingeladen hätte. Doch immerhin – es war die erste Präsenzveranstaltung von DiabetesDE seit Beginn der Corona-Pandemie vor anderthalb Jahren.
Heute auf den Tag genau vor 100 Jahren und einem Monat, sprich am 27. Juli 1921, gelang es dem Banting und Best erstmals, Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden zu isolieren. Der Entdeckung dieser beiden Pioniere verdanken Millionen Menschen mit Diabetes ihr Leben. Seit meiner Diagnose Typ-1-Diabetes vor gut elf Jahren gehöre auch ich ich zu ihnen, für die ihre Erkrankung vor einem Jahrhundert noch ein sicheres Todesurteil bedeutet hätte. Für uns alle ist dieses Jubiläumsjahr daher ein ganz besonderes mit vielen Gänsehaut-Momenten.
100 geladene Gäste waren dabei, als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der kurz vor Beginn der Veranstaltung von seinen Personenschützern zu seinem Platz in der ersten Reihe geleitet wurde, den Festakt von DiabeteDE im Berliner Hilton Hotel eröffnete. (Kleine Anekdote am Rande: Als ich vor Veranstaltungsbeginn kurz durch die Reihen der mit Abstand aufgestellten Einzelstühle streifte, fiel mir auf, dass auf Stuhl neben dem für Spahn reservierten Sitzplatz ein Zellte mit dem Kürzel ‚BKA‘ klebte. Ich überlegte fieberhaft: Mit den Abkürzungen DDG, SEA, DKA, VDBD, BVND, KE, LADA, BE, BMI, CGM, BOT, BZ, CSII, ICT, DFS, FGM, FPE, OAD, MARD oder OGTT bin ich vertraut. Aber wofür in aller Welt steht BKA? Bis mir klar wurde, dass dies kein Begriff aus der Diabetesblase ist, sondern für Bundeskriminalamt und damit wohl für die Personenschützer des Ministers steht.) 🙂



Grußwort von Jens Spahn: Ein Hoch auf die pharmazeutische Forschung
In seiner Rede versäumte Spahn es nicht, den im Gesundheitswesen arbeitenden Menschen zu danken: „In der Coronapandemie ist uns allen bewusst geworden, wie wichtig es ist, ein gutes Gesundheitswesen zu haben.“ Dazu gehöre auch die pharmazeutische Forschung und der einfache Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten wie Insulin. „Nachdem wir uns nun 18 Monate lang auf die Bekämpfung einer Infektionserkrankung konzentriert haben, ist es nun an der Zeit, wieder auf die Aufklärung und Prävention bei nicht-übertragbaren Erkrankungen zu fokussieren“, sagte der Minister. Dabei möchte er anknüpfen an die Nationale Diabetes Surveillance am Robert Koch-Institut (seit 2015), das Informationsportal diabinfo.de (seit 2020) und die endlich (ebenfalls 2020) im Bundestag verabschiedete Nationale Diabetesstrategie.

Ein vages Versprechen des Ministers an Familien mit Diabeteskindern
Der Vorsitzende von DiabetesDE, Dr. Jens Kröger, zeigte sich damit noch nicht zufrieden: „Es ist gut, dass es nun eine Nationale Diabetesstrategie und bald auch ein DMP Adipositas gibt – aber das alles hat noch nicht richtig an Fahrt aufgenommen!“ DDG-Präsident Dr. Andreas Neu wiederum mahnte an, dass es immer noch keine bundeseinheitliche Regelung für Kinder mit Typ-1-Diabetes gibt, damit sie Kitas und Schulen besuchen können, ohne dass ein Elternteil beruflich zurückstecken oder gar den Job aufgeben muss: „Werden Sie sich dafür einsetzen, dass sich diese Situation verbessert?“ Spahn erwiderte: „Bildung ist Ländersache, daher kann ich kein Bundesgesetz versprechen, das vorschreibt, was Schulen und Kitas leisten müssen.“ Allerdings sei der – bundeseinheitlich geregelte – Leistungskatalog der Krankenkassen in diesem Punkt möglicherweise ausbaufähig. Weitere Punkte könne er auf der nächsten Gesundheitsministerkonferenz ansprechen. „Meine kurze Antwort lautet daher: Ja, ich nehme das mit!“, sagte der Minister.
Abgemagerten Patiente, denen auch die damals übliche ‚Hungerdiät‘ nicht half
Nach seinem Vortrag blieb Spahn noch ein Weilchen und konnte daher auch dem Vortrag von Dr. Viktor Jürgens lauschen, der bei seiner Zeitreise durch die Entwicklung der Insulintherapie schilderte, was für eine furchtbare Diagnose Typ-1-Diabetes vor 100 Jahren noch war. Er zeigte historische Fotos von Patienten, die binnen weniger Monate abgemagert an den Folgen des Insulinmangels und der damals üblichen ‚Hungerdiät’ verstarben. Aber auch Labornotizen von Banting und Best waren dabei, sowie Bilder der ersten Diabetespatienten, bei denen das isolierte Insulin erfolgreich den Blutzucker senkte. Darunter der 13-jährige Leonard Thompson, der nur noch 29 kg wog und dem diabetischen Koma nah war, als ihm am 23. Januar 1922 als erstem Menschen Insulin injiziert wurde. Er lebte noch 13 weitere Jahre, bis er an einer Lungenentzündung starb. Der vierjährige Theodore Ryder, der vor seiner Therapie nur noch 12,5 kg wog, dank Insulin aber rasch zunahm und Banting schrieb: „Ich wünschte, Sie könnten mich jetzt sehen. Ich bin ein dicker Junge, fühle mich gut und kann auf Bäume klettern.“ Der Junge durfte noch 70 weitere Jahre ohne nennenswerte Folgeschäden leben.
Eine Heldengeschichte, bei der kein Auge trocken bleibt
Oder Elisabeth Hughes, die elfjährige Tochter des US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten von 1916, Charles Evan Hughes, der auf Drängen seiner Frau seinen politischen Einfluss nutzte, um seine Tochter von Banting behandeln zu lassen. Das Mädchen wog nur noch gut 20 kg und konnte kaum noch gehen – nach ein paar Wochen hatte sie schon einige Kilo zugenommen und freute sich, dass sie wieder Weißbrot und Makkaroni essen durfte. Viele dieser historischen Fotos kann man übrigens auch auf der eigens eingerichten Seite 100 Jahre Insulin von DiabetesDe anschauen. Als ich mich bei Dr. Jürgens Schilderungen verstohlen im Saal umsah, war ich erleichtert, dass ich nicht die einzige war, die sich angesichts dieser aus heutiger Sicht unvorstellbaren Schicksale ein paar Tränen von den Wangen wischen musste. Die Verdienste von Banting und Best, denen 1923 gemeinsam mit John James Richard McLeod und James Collip der wohlverdiente Medizinnobelpreis verliehen wurde, sie sind nun einmal eine Heldengeschichte, bei der kein Auge trocken bleibt.
Bauchspeicheldrüsen von Schweinen durch den Fleischwolf gedreht
Doch sie markierte ja erst den Anfang. Mit Dr. Hans Christian Hagedorn, der zusammen mit seiner Frau in seiner heimischen Küche Bauchspeicheldrüsen von Schweinen durch den Fleischwolf drehte, mit Alkohol versetzte und filtrierte, startete die Insulinproduktion in Europa. Und obgleich die Insulintherapie seither immer wieder weiterentwickelt wurde, stellt sie Forscherinnen und Forscher bis heute vor große Herausforderungen, wie Prof. Dr. Thomas Forst verdeutlichte: „Wir spritzen Insulin noch immer dorthin, wo es eigentlich nicht hingehört.“ Denn mit der physiologischen Freisetzung über die Leber im gesunden Stoffwechsel kann es die Insulinresorption aus dem subkutanen Fettgewebe nun einmal nicht aufnehmen. „Wir haben in den vergangenen 100 Jahren viel erreicht und stehen trotzdem noch ganz am Anfang“, betonte Prof. Forst.

Trotz hochentwickelter Therapien sterben weiterhin Kinder an Ketoazidosen
Dessen unbenommen ist Insulin ein Arzneimittel, mit dem man damals wie heute nur einen einzigen Patienten behandeln muss, um ein Leben zu retten. Kein Diabetesmedikament, das seither auf den Markt gekommen ist (möglicherweise sogar überhaupt kein anderes Arzneimittel?), kann eine solche NTT (number needet to treat) aufweisen. Und doch ist Insulin nicht alles, was es für eine erfolgreiche Diabetestherapie braucht, wie DDG-Präsiden Prof. Dr. Andreas Neu schilderte: „Trotz hochentwickelter Therapieformen wie CSII, sensorunterstützte Pumpentherapie etc. ist man in der pädiatrischen Diabetologie noch immer weit entfernt vom HbA1c-Ziel <7%, und es sterben immer noch Kinder an diabetischen Ketoazidosen.“ Ich wünschte, Jens Spahn wäre zu diesem Zeitpunkt noch im Raum gewesen, denn der Vortrag von Prof. Neu hätte ihm sicherlich noch stärker verdeutlicht, dass die Teilhabe von Kindern mit Diabetes kein Thema sein darf, das man achselzuckend der Bildungspolitik und damit der Hoheit der 16 Bundesländer zuschieben darf.
Es braucht politischen Willen, um die Rahmenbedingungen zu verbessern
Denn nach wie vor reißt der Diabetes Kinder aus ihrem Alltag und erschwert ihre Teilhabe – sei es in der Kita, beim Sport oder in der Schule. Insbesondere Mütter von Kindern mit Typ-1-Diabetes sind hochbelastet, Familien mit geringer Gesundheitskompetenz oder Sprachproblemen erhalten nicht die Hilfen, die sie benötigen. Um diese Lücken zu schließen, forderte Prof. Neu zum einen eine breite Aufklärung der Bevölkerung über die Symptome des Typ-1-Diabetes, zum anderen qualifizierte Behandlungseinrichtungen für die stationäre wie ambulante Versorgung, eine flächendeckende psychosoziale Versorgung sowie eine verbesserte Inklusion in Kitas, Kindergärten und Schulen: „Insulin öffnet diesen Kindern das Tor zum Leben, doch es braucht mehr, damit sie ganz normal aufwachsen können wie andere auch. Es braucht aber politischen Wille, um die Rahmenbedingungen zu verbessern.“

Insulin ist ein Lebenretter – doch man sollte es sparsam einsetzen
Auch Matthias Steiner, der seit seinem 18. Geburtstag mit Typ-1-Diabetes lebt und den meisten Menschen dank seiner olympischen Goldmedaille im Gewichtheben 2008 in Seoul als ‚stärkster Mann der Welt‘ bekannt ist, konzentrierte sich auf das gesellschaftliche Umfeld für ein gesundes Leben: „Wir brauchen eigentlich keine Diabetesstrategie, sondern viel mehr Prävention!“ Denn wo man auch hinblickt, lauern überall locken kohlenhydrat- und fettreiche Kalorienfallen, die Menschen das Abnehmen schwermachen. (Nebenbei bemerkt: In diesem Punkt war der Festakt im Hilton Hotel keine Ausnahme: Das Buffet, an dem man sich beim anschließenden Sektempfang bedienen konnte, bestand im Wesentlichen aus hochkalorischen und kohlenhydratreichen Häppchen bzw. Mini-Deserts.) Hier müsste man ansetzen und damit das Diabetesrisiko in der Bevölkerung senken. Steiner weiß, wovon er spricht, wenn es um den schwierigen Weg zum gesunden Körpergewicht geht: Schließlich hat er selbst seit Ende seiner aktiven Sportkarriere als Schwergewichtler 45 kg abgenommen. Bislang gelingt es ihm, sein Gewicht zu halten, und er trägt sein Erfolgsrezept – viel Bewegung und kohlenhydratreduziete Ernährung – als Buchautor und Fitness-Coach in die Welt. „Natürlich ist Insulin ein Lebensretter. Und es bügelt auch vieles glatt. Doch es ist kein Wundermittel, und wir sollten es sparsam einsetzen.“ Denn anders als Bantings erste Patienten sind die wenigsten von uns so ausgemergelt, dass wir uns mithilfe von Insulin ein paar mehr Kilos auf die Rippen futtern müssen.

Abschließend noch ein paar weitere Impressionen dieses denkwürdigen Tages in Berlin, der für mich übrigens auch ein perfekte Gelegenheit war, endlich einmal meinen schönen Anhänger mit dem Blue Circle öffentlich auszuführen. 🙂







Der Festakt wurde übrigens auch live gestreamt und am Nachmittag mit einer Online-Veranstaltung fortgesetzt. Alle Vorträge kann man sich weiterhin ansehen unter www.100-jahre-insulin.de, wo man auch jede Menge Hintergrundinformationen über die Entdeckung des Insulins findet.
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